Erste Erfahrungen mit dem Konzept der stoffübergreifenden Bedarfsgruppen
Am 20.08.2014 eröffnete therapiehilfe e. v. das RehaCentrum Alt-Osterholz, eine Klinik für die medizinische Rehabilitation von Suchtkranken mit 80 stationären und 20 ganztägig ambulanten Behandlungsplätzen in Bremen. Im RehaCentrum Alt-Osterholz werden Rehabilitandinnen und Rehabilitanden* mit Abhängigkeitserkrankungen von legalen und illegalen Substanzen behandelt. Konzeptionell neu ist, dass die Allokation der Behandlungszeiten und -bedarfe nicht mehr ausschließlich über die konsumierten Suchtstoffe erfolgt, sondern über die Auswirkungen der Suchterkrankung auf alle Lebensbereiche der betroffenen Person. In die Beurteilung der Auswirkungen fließen sowohl die häufig bestehenden komorbiden psychiatrischen und/oder somatischen Erkrankungen als auch Teilhabestörungen auf allen Ebenen der ICF unter Berücksichtigung der hemmenden und fördernden Kontextfaktoren mit ein.
Eine Substanz – viele Lebenswelten
Auslösend für diesen konzeptionellen Ansatz waren die empirischen Beobachtungen, dass sich die Konsummuster in den vergangenen Jahrzehnten entsprechend der gesellschaftlichen Entwicklungen veränderten. Der klassische ‚Alkoholabhängige‘, ‚Medikamentenabhängige‘ oder drogenabhängige ‚Junkie‘ wurde immer seltener in den Suchtberatungsstellen, den Entgiftungskliniken und Rehabilitationseinrichtungen angetroffen. Es kamen immer mehr Menschen, die bei genauer anamnestischer Erhebung angaben, dass sie von mehreren Substanzen abhängig waren, und deren Lebenswelten sich deutlich unterschieden, d. h. nicht mehr einheitlich durch die konsumierten Substanzen bestimmt wurden. Somit erschien die Annahme, dass sich allein über die konsumierten psychotropen Substanzen die Lebenswelt, der Schädigungsgrad sowie die Einschränkungen in der Teilhabefähigkeit der betroffenen Patienten und damit die Behandlungsziele und -bedarfe definieren ließen, nicht mehr haltbar. Lange war schon bekannt, dass z. B. der ‚typische Alkoholiker‘ in der Praxis nicht vorhanden war. Alkoholabhängigkeit war immer schon ein sehr heterogenes und multifaktoriell bedingtes Erkrankungsbild. Jeder Praktiker kennt z. B. den sozial gut integrierten Alkoholabhängigen mit einer durchgängigen Berufsbiographie und einer eher späten Entwicklung der Abhängigkeit. Ebenso kennt er den sozial desintegrierten, langfristig arbeitslosen oder sogar wohnungslosen Alkoholiker mit einem meist frühen Beginn der Abhängigkeit und hoher Komorbidität, der vom Beeinträchtigungsbild her dem ‚Junkie‘ deutlich näher ist als die erstgenannte Ausbildung der Alkoholabhängigkeit. Schon an diesem Beispiel ist ersichtlich, dass eine mehrdimensionale ICF-basierte Diagnostik und eine Einteilung der Rehabilitanden in Bedarfsgruppen erforderlich sind.
Aufhebung der Parallelsysteme
Ein weiterer Grund für ein suchtmittelübergreifendes Konzept ist eine verbesserte Versorgung von Suchtkranken im gesamten Suchthilfesystem, nicht nur im stationären Bereich. In Deutschland haben sich historisch zwei Parallelsysteme entwickelt (legal: Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit; illegal: Drogenabhängigkeit), die sich oft auf allen Ebenen (Betreuer, Berater, Behandler, Leistungsträger und Leistungserbringer) deutlich voneinander abgrenzen. Die Folge davon ist, dass der Zugang zu den Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsangeboten über den konsumierten Suchtstoff bzw. die konsumierten Suchtstoffe erfolgt und in vielen Fällen die Nutzung von Angeboten aus dem anderen Versorgungsbereich, die indiziert und sinnvoll wäre, nicht möglich ist. Eine Einteilung nach Teilhabestörungen in bestimmte (Hilfe-)Bedarfsgruppen könnte zu einer passgenaueren Versorgung im gesamten Suchthilfesystem führen.
Standort und Architektur
Im RehaCentrum werden dementsprechend suchtmittelübergreifend (einschließlich der Reha-Behandlung unter Substitution) Entwöhnungsbehandlungen durchgeführt. Seitens des Federführers, der DRV Oldenburg-Bremen, wurde dieser konzeptionelle Ansatz erstmalig anerkannt und aktiv gefördert. Die DRV Bund trägt den konzeptionellen Ansatz im Rahmen des Federführungsprinzips mit. Flankiert wird die bedarfsgruppenbasierte Behandlungssteuerung durch eine wohnortnahe, hoch vernetzte, auf die Verbesserung der beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabefähigkeit ausgerichtete Behandlungsorganisation. Besonders wichtig hierfür war die Wahl des Standortes der Klinik. Diese liegt mitten in einem lebendigen multikulturellen Stadtteil von Bremen in der unmittelbaren Nähe zu den beiden psychiatrischen Kliniken des Landes Bremen. Weiterhin wurde das Bedarfsgruppenkonzept architektonisch umgesetzt. So sind drei miteinander verbundene moderne Baukörper, in denen ausschließlich Einzelzimmer vorgehalten werden, entstanden. In jedem Baukörper ist eine Bedarfsgruppe untergebracht. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, dass die Rehabilitanden Sicherheit und Orientierung dadurch bekommen, dass sie gemeinsam mit ihrer Bezugsgruppe (mehrere Bezugsgruppen bilden eine Bedarfsgruppe) auf einem Flur wohnen. Aus demselben Grund befindet sich auch das Büro des Gruppentherapeuten auf dem jeweiligen Flur.
So stellen sich die Bedarfsgruppen aktuell dar:
Bedarfsgruppe I:
- weitgehend erhaltene soziale und berufliche Integration
- psychische Grundproblematik auf integriertem bis mäßig integriertem Strukturniveau (OPD-Achse IV)
- keine bzw. eher geringes Ausmaß an psychiatrischer/somatischer Komorbidität
- relativ später Beginn der Abhängigkeitserkrankung und/oder eine Monoabhängigkeit
Bedarfsgruppe II:
- beginnende oder bereits manifeste Einschränkungen im sozialen und beruflichen Bereich
- Arbeitslosigkeit
- mäßig bis gering integriertes psychisches Strukturniveau (OPD-Achse IV)
- komorbide psychische Störungen (Ängste, Depressionen, psychosomatische Problematik, Persönlichkeitsstörungen)
- somatische Sucht-Folgeerkrankungen
Bedarfsgruppe III:
- langjährige und/oder massive soziale und berufliche Desintegration
- langjährige Abhängigkeitserkrankung und/oder Polytoxikomanie
- eher gering integriertes psychisches Strukturniveau (OPD-Achse IV)
- multiple psychische/psychiatrische Begleitstörungen
- junge Altersstruktur, erhebliche Reifungsdefizite und soziale Verwahrlosung
Zuordnung zu den Bedarfsgruppen
Eine vorläufige Zuteilung in die Bedarfsgruppen erfolgt schon vor Aufnahme auf Grundlage einer eingehenden Vorlaufdiagnostik. In einigen Bremer Suchtberatungsstellen des therapiehilfe e. v. wird zusätzlich der „Bremer Screening Bogen“ eingesetzt, der zurzeit evaluiert und weiterentwickelt wird. Für die Vorlaufdiagnostik, die der ärztliche Dienst durchführt, werden die medizinischen Vorbefunde, der Sozialbericht und das ärztliche Kurzgutachten zur Beantragung einer medizinischen Rehabilitation genutzt. Gegebenenfalls werden Vorgespräche durchgeführt (diese sind obligatorisch bei Rehabilitanden, die unter Substitution ihre Reha-Behandlung beginnen möchten).
Nach Ankunft in der Klinik durchlaufen die Rehabilitanden eine Eingangsdiagnostik und eine ausführliche Anamneseerhebung der relevanten Lebensbereiche. Wenn dies abgeschlossen ist (nach spätestens zwei Wochen), wird im Rahmen der ersten Fallbesprechung die Bedarfsgruppenzuordnung überprüft und, wenn erforderlich, eine Korrektur durchgeführt. Anhand der verbindlichen Zuordnung werden dann in Abstimmung mit den Rehabilitanden die Behandlungsziele und die Behandlungsplanung festgelegt. Wichtig hierbei ist, dass alle Rehabilitanden, unabhängig von der Einteilung in die Bedarfsgruppen, das Grundprogramm entsprechend der Vorgaben der ETM´s (Evidenzbasierte Therapiemodule, vorgegeben in den „Reha-Therapiestandards Alkoholabhängigkeit“ der DRV) erhalten. Die Zuordnung zu den indikativen und teilhabebezogenen Behandlungen erfolgt auf Basis der Bedarfsgruppenzuordnung und der Ergebnisse der Diagnostik.
Die bisher bewilligte Behandlungsdauer wird mit der verbindlich ermittelten Bedarfsgruppe abgeglichen, und bei Abweichungen gibt die Klinik eine Empfehlung an den Leistungsträger ab (Bedarfsgruppe I: 8 bis 12 Wochen; Bedarfsgruppe II: 14 bis 16 Wochen; Bedarfsgruppe III: 19 bis max. 26 Wochen). Perspektivisch ist eine flächendeckende Anwendung des „Bremer Screening Bogens“ geplant, so dass langfristig bereits bei der Beantragung der Kostenübernahme die Bedarfsgruppe bekannt ist. Derzeit folgt der federführende Leistungsträger in seinen Bewilligungen den Empfehlungen der Klinik. Für die Zukunft ist geplant, hieraus einen formalisierten Vorgang zu machen. Ergänzend zur der Einteilung in Bedarfsgruppen erfolgt analog die Zuteilung in die BORA-Gruppen. Hier zeigte sich rasch, dass dies vollkommen problemlos möglich ist (Bedarfsgruppe I: BORA-Gruppen 1, 2 und 5; Bedarfsgruppe II: BORA-Gruppen 2, 3, 4 und 5; Bedarfsgruppe III: BORA-Gruppen 4 und 5).
Erfahrungen aus zwei Jahren Praxis
Nach nunmehr fast zwei Jahren Erfahrung mit der Umsetzung dieses Konzeptes lässt sich feststellen, dass die Rehabilitanden damit sehr gut zurechtkommen. Die Zuordnung in die Bedarfsgruppen ist in über 95 Prozent der Fälle stimmig. In den restlichen fünf Prozent konnte dies immer komplikationslos mit Zustimmung der Rehabilitanden und des Leistungsträgers korrigiert werden. Wie erwartet entwickeln sich unabhängig von den konsumierten Suchtstoffen in den Bedarfsgruppen Lebenswelten, in denen sich die Rehabilitanden mit ihren Themen wiederfinden. Hier einige Beispiele:
In der Bedarfsgruppe I fragen die Rehabilitanden primär die psychotherapeutischen Angebote nach. Im Vordergrund stehen Themen wie Achtsamkeit, Umgang mit Stress, Verbesserung der Freizeitaktivitäten sowie Befähigung zur Abgrenzung gegenüber Ansprüchen an die eigene Person durch andere (Life Balance). Häufig besteht eine hohe Motivation, sich mit psychotherapeutischen Themen intensiv auseinanderzusetzen. Diese ist in der Bedarfsgruppe I deutlich stärker ausgeprägt als in Bedarfsgruppe III. In der Bedarfsgruppe III steht dagegen der Umgang mit Regeln im Fokus der therapeutischen Arbeit sowie die Auswirkungen der oft vorhandenen komorbiden psychiatrischen Erkrankungen.
Die Befürchtung, dass es zu starken Abgrenzungen zwischen den Bedarfsgruppen kommen könnte, z. B. im Sinne einer Hierarchisierung, ist nicht eingetreten. Natürlich treten manchmal Konflikte auf, aber diese spielen sich hauptsächlich innerhalb der Bezugsgruppen ab (mehrere Bezugsgruppen bilden eine Bedarfsgruppe) oder auch zwischen den Bezugsgruppen („Gruppe A hat den Waschhausschlüssel nicht rechtzeitig an Gruppe B gegeben“). Diese Konflikte sind fast immer unabhängig von der Bedarfsgruppe.
Aus den Gruppentherapien berichten die Therapeutinnen und Therapeuten, dass in der Bezugsgruppe ein sehr fokussiertes und auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittenes Arbeiten möglich ist. Interessant sind die Berichte aus den indikativen Angeboten (die teilweise störungsspezifisch und bedarfsgruppenübergreifend sind): Die unterschiedlichen Fähigkeiten und Umgangsweisen der Rehabilitanden treffen hier aufeinander. Bei der „Rückfallvorbeugung“ führt dies oft zu sehr fruchtbaren Diskussionen, und die Unterschiedlichkeit wird als Bereicherung angesehen. Im „Sozialen Kompetenztraining“ wurde sehr schnell deutlich, dass hier eine Trennung der Teilnehmer je nach Bedarfsgruppe notwendig ist, da die Spanne an individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu weit ist. Grundsätzlich aber gilt, dass die intrinsische Motivation ein besserer Indikator dafür ist, ob jemand in einer Indikationsgruppe zurechtkommt, als die Zugehörigkeit zu einer Bedarfsgruppe.
Das Konzept der stoffübergreifenden Bedarfsgruppen wird durch die erzielten Haltequoten bestätigt. Diese haben sich in allen drei Bedarfsgruppen stetig bis auf derzeit über 72 Prozent, mit weiter steigender Tendenz, erhöht. Die regelmäßige klinikinterne Auswertung zeigt, dass sich die Unterschiede zwischen den Bedarfsgruppen zunehmend verringern, d. h., auch in der Bedarfsgruppe III steigen die Haltequoten und die regulär abgeschlossenen Entwöhnungsbehandlungen deutlich. Dies ist besonders bemerkenswert, da in dieser Bedarfsgruppe Rehabilitanden behandelt werden, die nach der traditionellen Zuweisungsform eher in Drogenentwöhnungseinrichtungen behandelt würden, in denen Haltquoten von 40 bis 45 Prozent als sehr gut gelten.
Zufriedenheit der Rehabilitanden
Auf der Basis der zweimal jährlich im gesamten Träger therapiehilfe e. v. durchgeführten Rehabilitandenbefragung (diese wurde bisher dreimal im RehaCentrum durchgeführt) lässt sich feststellen, dass sich die Zufriedenheit der Rehabilitanden im Vergleich zu anderen Rehabilitationskliniken des Trägers nicht verschlechtert hat bzw. sogar höher ist. Negative Rückmeldungen zum Bedarfsgruppenkonzept waren nicht zu finden. Als positiv und hilfreich wurden der flexible und auf die individuellen Behandlungsbedarfe abgestimmte Behandlungsprozess sowie das teilhabe- und wohnortnahe Behandlungssetting wahrgenommen. Kritik gab es, wenn aus Gründen der Belegungssteuerung Rehabilitanden aus unterschiedlichen Bedarfsgruppen vorrübergehend in einer Gruppe zusammengefasst werden mussten. Hier wurde dann, unabhängig vom konsumierten Suchtstoff, darüber geklagt, dass man sich mit seinen Themen nicht wiederfindet.
Ein limitierender Faktor für eine solche Behandlungssteuerung ist sicherlich die personelle Ausstattung und die Bettenzahl einer Klinik. Die im RehaCentrum vorhandenen 80 Betten stellen nach den vorliegenden Erfahrungen die Mindestgröße dar, mit der ein solch komplexes System adäquat umgesetzt werden kann. Bei weniger Rehabilitanden kann die benötigte Anzahl von Bezugs- und Indikationsgruppen personell nicht mehr abgebildet werden.
Evaluation und Weiterentwicklung
Katamnestische Daten liegen aktuell noch nicht vor. Das Bedarfsgruppenkonzept und der Einsatz des „Bremer Screening Bogens“ werden im Rahmen eines Forschungsprojekts in Kooperation mit der Jacobs University Bremen und der Deutschen Rentenversicherung Oldenburg-Bremen evaluiert. Erster Schritt des Forschungsprojektes ist es, den Screeningbogen so weiterzuentwickeln, dass er sowohl anwenderfreundlich für die beantragenden Stellen ist als auch relevante Informationen über die Suchtgeschichte und das Ausmaß der Teilhabe- und komorbiden Störungen enthält. Damit soll er zum einen eine Entscheidungshilfe für Zuweiser darstellen, ob eine ambulante, ganztägig ambulante oder stationäre Behandlung für den Klienten sinnvoll ist. Zum anderen soll er bei angezeigter stationärer Behandlung eine erste Zuordnung in eine Bedarfsgruppe und eine erste Definition von teilhabeorientierten Therapiezielen ermöglichen. Der Projektantrag wartet derzeit auf Bewilligung, weitere Projekte zur Evaluation der Behandlung in den Bedarfsgruppen sind in Planung.
Insgesamt lässt sich sagen, dass die Erfahrungen mit dem Bedarfsgruppensystem fast durchweg positiv sind und dieses Konzept eine den individuellen Bedürfnissen der Rehabilitanden angepasste Behandlungsplanung ermöglicht.
*Im Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form verwendet, Frauen sind damit eingeschlossen.
Kontakt:
Sarah Pachulicz
Therapeutische Leitung
RehaCentrum Alt-Osterholz
Osterholzer Landstraße 49a
28325 Bremen
sarah-pachulicz@therapiehilfe.de
http://www.therapiehilfe.de/rl/index.php/osterholz.html
Angaben zu den Autoren:
Sarah Pachulicz, M.A., Psychologische Psychotherapeutin, Arbeits- und Organisationspsychologin, Therapeutische Leiterin des RehaCentrums Alt-Osterholz, Bremen
Thomas Hempel, Ärztlicher Leiter Therapiehilfeverbund, Ärztlicher Leiter RehaCentrum Alt-Osterholz, stellvertretender geschäftsführender Vorstand therapiehilfe e. v., Hamburg und Bremen