Nutzungsmöglichkeiten des KDS 3.0
Wohl in keinem anderen Bereich psychosozialer oder medizinischer Hilfen – sowohl in Deutschland wie auch im internationalen Vergleich – werden routinemäßig derart viele Versorgungsdaten erfasst wie in der Deutschen Suchthilfestatistik. Viele dieser Daten bilden die Grundlage für die europäische Drogenberichterstattung, stellen wichtige Bezugswerte für Forschungsarbeiten dar oder sind Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung von Therapiekonzepten und Versorgungsstrukturen.
Dennoch stellt sich nach der intensiven Überarbeitung des KDS die Frage, ob und inwieweit die damit dokumentierenden Einrichtungen diese differenzierte Fülle ihrer Daten nun auch besser für die eigenen fachlichen und versorgungspolitischen Interessen werden nutzen können. Die bekannten riesigen Tabellen der bisherigen Standardauswertungen haben mit ihrer Datenfülle vermutlich mit dazu beigetragen, dass viele Tätigkeitsberichte vor allem von ambulanten Einrichtungen sich seit Jahren unverändert auf nur wenige Daten zur Gesamtklientel und auf einzelne, meist behandlungsorientierte Maßnahmendaten beschränkten. Dabei ist sicher jedem Praktiker bewusst, wie wenig aussagekräftig solche Gesamtdaten in aller Regel für eine Einrichtung sind: Je offener der Zugang zur Einrichtung ist, je vielfältiger die Problemlagen und aktuellen Bedürfnisse der Hilfe suchenden Menschen sind und je differenzierter dann auch das Leistungsangebot der Einrichtung ist, desto inhaltsleerer sind zwangsläufig statistische Aussagen zur Gesamtklientel und zur Gesamtheit der Maßnahmen.
Interne Qualitätsentwicklung und fachlich sinnvolles Controlling
Mit der Aktualisierung zum KDS 3.0 wurde nun die bisherige Datenfülle ganz gezielt auf mehreren Ebenen noch ausdifferenziert und erweitert. Damit sollen den Einrichtungen bessere und auch neue Möglichkeit an die Hand gegeben werden, ihre dokumentierten Daten für Prozesse der internen Qualitätsentwicklung, aber auch für ein fachlich sinnvolles Controlling und für nutzerorientierte (politische) Steuerungen einzusetzen. Solche Dokumentationsdaten sind ja als Merkmalskombinationen ‚Indikatoren‘ für Versorgungswirklichkeiten und damit Bezugspunkte für notwendige fachliche und versorgungsorientierte Diskurse.
Ein wesentliches Element dieser Differenzierung ist die Trennung von Einrichtungstyp und Leistungsangebot im KDS-E, die an verschiedenen Stellen im KDS-E und im KDS-F aufgegriffen wird. Damit soll der zunehmenden Komplexität des Suchthilfesystems Rechnung getragen werden: Es werden immer mehr und immer neue Hilfeangebote und Leistungsmodule entwickelt, die zu möglichst sinnvollen und individuellen ‚Behandlungsketten’ zusammengefügt werden müssen. Diese Komplexität noch zu beherrschen, ist zu einer zentralen Herausforderung für die Leistungsanbieter in der Suchthilfe geworden. In den kommenden Jahren werden die auf der Basis des KDS erfassten Daten der Deutschen Suchthilfestatistik eine sehr viel differenziertere Analyse der Entwicklungen im Hilfesystem ermöglichen.
Lebenslagen, Teilhabe und Konsumveränderung
Die Items zu psychosozialen Problemlagen bieten insbesondere den nicht ausschließlich mit Suchtbehandlung befassten Einrichtungen die Möglichkeit, Lebenslagen und aktuelle Hilfebedarfe ihrer Klienten differenziert abzubilden. Damit können in Relation zu Dauer und Intensität eigener Maßnahmen auch mögliche Wirkungen auf die Gesundheit und die Verbesserung sozialer oder beruflicher Teilhabe dieser Klienten in den Blick genommen werden – und zwar auch unabhängig von Änderungen in der Suchtdiagnostik.
Gleichzeitig wurde mit der getrennten Erfassung von Konsumdaten und Suchtdiagnosen die Möglichkeit geschaffen, graduelle Verbesserungen im Konsumverhalten genauso zu erfassen wie Entwicklungen hin zu riskanten oder schädigenden Konsummustern. Diese Option ist keineswegs nur für die ambulante Suchthilfe mit ihren Angeboten zur Konsumreduzierung oder der Substitutionsbehandlung von Bedeutung, sondern eröffnet auch für die katamnestische Auswertung von Behandlungsleistungen eine differenziertere und alltagsrelevante Sicht.
Die mit der Aktualisierung des KDS entwickelte systematische Abbildung der Versorgungslandschaft im Vorfeld, während und im Anschluss an die aktuelle Betreuung schafft schließlich die Möglichkeit, über den eigenen Einrichtungshorizont hinaus das Ausmaß von Vernetzungen in der Versorgungslandschaft differenziert zu betrachten und – auch unabhängig von definierten Behandlungspfaden – die Notwendigkeit und Funktionalität dieser Vernetzung zu thematisieren: Wenn die öffentliche Hand an der besseren Wirksamkeit von Sozialleistungen und anderen gesellschaftlichen Maßnahmen sowie an der Verbesserung der beruflichen Teilhabe suchtkranker Menschen interessiert ist, dann muss über das Behandlungssystem hinaus auch die Leistungsfähigkeit des gesamten Netzwerks psychosozialer Hilfen und Institutionen in den Blick genommen werden.
Relation von Aufwand und Wirkung
In den letzten Jahren hat es zahlreiche Ansätze zur politischen Steuerung der ambulanten Suchthilfe gegeben, die zwar in ihrer fachlichen Qualität höchst unterschiedlich waren, die aber letztlich alle aufgrund der bisherigen Datenbasis auf eine Steuerung nach „Leistungsmengen“ und damit Fallkosten hinausliefen. Mit den genannten Erweiterungen des KDS 3.0 gibt es nun in der Deutschen Suchthilfestatistik erste Ansätze auch zu fundierten Aussagen über die Relation von Aufwand und Wirkung für einzelne Klientengruppen oder einzelne Maßnahmen. Eine solche Entwicklung zu „wirkungsorientierten Steuerungskonzepten“ ist für die ambulante Suchthilfe als Leistung der Daseinsvorsorge sicher nicht unproblematisch. Umso wichtiger wird sein, dass die Fachkräfte dieser Einrichtungen eine möglichst hohe Kompetenz darin entwickeln, an die Fülle ihrer eigenen Daten fachlich sinnvolle und politisch relevante (wirkungsorientierte) Fragen zu stellen, ohne dabei die individuellen Interessen der Hilfe suchenden Menschen und die Abhängigkeit der einzelnen Einrichtung von Vernetzungsstrukturen aus dem Blick zu verlieren. Nach der erfolgreich beendeten Aktualisierung des KDS 3.0 müsste es deshalb im Interesse der Suchthilfeverbände liegen, ihre Mitglieder bei einem solchen Kompetenzerwerb bestmöglich zu unterstützen.
Kontakt:
Karl Lesehr, M.A.
Werkstatt PARITÄT gemeinnützige GmbH
Hauptstraße 28
70563 Stuttgart
lesehr@paritaet-bw.de
www.werkstatt-paritaet-bw.de
Angaben zu den Autoren:
Karl Lesehr war lange als Mitarbeiter und Leiter einer Suchtberatungsstelle tätig. Danach arbeitete er als Referent für Suchthilfe beim Diakonischen Werk Württemberg und beim PARITÄTISCHEN Baden-Württemberg. Als Ruheständler nimmt er Beratungsaufträge wahr und hat noch die fachliche Leitung zweier Landesprojekte (Projekt Su+Ber zur suchtrehabilitativ gestützten Verbesserung der beruflichen Integration von Langzeitarbeitslosen mit Suchtproblemen und Projekt VVSub zur verbesserten Behandlungskooperation zwischen Arzt und Suchtberatung in der Substitutionsbehandlung).
Prof. Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V. (buss) in Kassel und Mitherausgeber von KONTUREN online.