Ein Erfahrungsbericht aus der Praxis
Die Leistungsträger der medizinischen Rehabilitation erlegen den Leistungserbringern hohe Anforderungen an Struktur, Konzept und fachlicher Kompetenz auf. Deren Implementierung ist belegungs- und vergütungsrelevant und wird durch etablierte Qualitätssicherungsprogramme regelmäßig überprüft. Zu Recht, ist doch die qualitativ hochwertige Rehabilitation spätestens volkswirtschaftlich von immenser Bedeutung! Zu diesen Anforderungen von Seiten der Leistungsträger gehört, dass der leitende Arzt/die leitende Ärztin über eine Gebietsbezeichnung und bestenfalls und wünschenswerterweise über die Zusatzbezeichnung Rehabilitationswesen oder Sozialmedizin verfüge, da die Aufgabe fundierte medizinische und rehabilitative Kenntnisse sowie die umfassende Berücksichtigung aller Reha-relevanten Erkrankungen erfordere.
Nach Ansicht der Leistungsträger stellen Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation ein wertvolles Potential für die ärztliche Weiterbildung dar, weil hier Kenntnisse über Prävention und die Vermittlung von Strategien zum langfristigen Erhalt erreichter Lebensstiländerungen sowie Kenntnisse in der sektorübergreifenden Versorgung und sozialmedizinischen Behandlung und Begutachtung erworben werden. Die Weiterbildung in einer Klinik ermöglicht in kollegialer Lernatmosphäre den umfassenden Blick auf die erwerbs- und arbeitsplatzrelevanten Fähigkeiten des Patienten unter Verknüpfung akutmedizinischer und rehabilitationsbezogener Belange.
Seit einigen Jahren scheiden nun zunehmend klinische Sozialmediziner – im Sinne einer besseren Lesbarkeit des Textes wird durchgängig die männliche Form verwendet, wobei stets beide Geschlechter gemeint sind – ohne Nachfolger aus dem Berufsleben aus. Vom leitenden Arzt einer Fachklinik zur Rehabilitation Abhängigkeitskranker erwartet der Leistungsträger neben der Gebietsbezeichnung heute (deswegen?) nur noch, dass er die sozialmedizinischen Blockseminare an einem Weiterbildungsinstitut besucht hat. An deren formalem Besuch wird nun die belegungs- und vergütungsrelevante Qualität einer Reha-Einrichtung gemessen. Die aktuelle Beschränkung der Leistungsträger auf den schieren Besuch der Kurse scheint also vernünftig und pragmatisch, birgt aber Gefahren für die dauerhafte Belegung einer Klinik, verhindert für den leitenden Arzt Rechtssicherheit und vernachlässigt das Potential der Reha-Einrichtungen als hoch differenzierte Weiterbildungsstätten. Darüber hinaus ist bundesweit die Weiterbildungsordnung zum Erwerb des Zusatztitels Sozialmedizin inhomogen und die Handhabung zur Erteilung der Weiterbildungsermächtigung in einigen Ländern sehr starr. Weiterbildungsordnung, Bedarf der Leistungsträger und Interesse der Ärzte (und Rehabilitanden?) sind nicht harmonisiert. Aus der kammerseitig restriktiven Handhabung der Erteilung von Weiterbildungsermächtigungen resultiert u. a. der heute fehlende sozialmedizinische Nachwuchs.
In einigen Bundesländern ist das Curriculum der Blockseminare inhaltlich auf die Erwartungen der Leistungsträger an die im eigenen Haus tätigen Ärzte eingeengt. Diese Ärzte besuchen die Seminare und hospitieren bei unterschiedlichen Sozialversicherungsträgern. Danach werden sie höher eingruppiert, führen aber keinen Zusatztitel. Der Besuch dieser Seminare ist die Grundlage, um dann in der Geschäftsstelle sozialmedizinisch vor allem gutachterlich im weitesten Sinne tätig zu sein. Klinisch tätige Ärzte absolvieren diese Seminare ebenso, da sie Bestandteil der Weiterbildung sind, brauchen aber, sofern sie den Zusatztitel erlangen wollen, wie in jeder Weiterbildung praktische Anleitung und Supervision im klinischen Alltag bei einem zur Weiterbildung ermächtigten Arzt. Sie lernen, Reha-Diagnosen zu stellen, ihre gesamte Behandlungsstrategie sozialmedizinisch auszurichten und das Behandlungsergebnis in gutachterliche Stellungnahme und Empfehlung zu gießen. Jedoch ist es schwierig, die Weiterbildungsermächtigung zu erlangen, da die Kammer, wie oben genannt, auch vom klinisch tätigen Arzt ein eher verwaltungsbezogenes Curriculum sowie das ständige Beisammensein von Weiterbilder und Assistent im Unterstellungsverhältnis erwartet.
Die Autorin erwarb im Jahr 2000 u. a. den Zusatztitel Sozialmedizin im Bundesland Sachsen nach einjähriger Weiterbildungszeit bei einem zur Weiterbildung ermächtigten Arzt in einer Fachklinik. Als sie für sich 2010 die Weiterbildungsermächtigung im Bundesland Baden-Württemberg beantragen wollte, war sie Ärztliche Direktorin von fünf Fachkliniken. Die Weiterbildungsermächtigung wurde nach langem Briefwechsel mit der Kammer letztendlich nicht erteilt, da die Ärztliche Direktorin weder fünf Tage in der Woche acht Stunden am Tag mit dem Weiterbildungsassistenten verbringen noch für ihren Urlaub eine qualifizierte Vertretung bereitstellen konnte (weil sie im gesamten Klinikverbund die einzige Ärztin mit Zusatztitel war). Dagegen klagte sie.
Nun sind Weiterbildungsassistenten im Fach Sozialmedizin zumeist bereits leitende Ärzte mit einer Gebietsbezeichnung und langjähriger Erfahrung in der Rehabilitation. Sie leiten Fachkliniken, betreiben sozialmedizinische Diagnostik, Behandlung und Begutachtung, haben die Seminare besucht, sollen aber dennoch, so die Erwartung zur Erfüllung der Weiterbildungsordnung, ständig vom Weiterbilder soufflierend umgeben sein.
In einigen Bundesländern gibt es realitätsbezogenere Regelungen: Zum Beispiel lässt sich dort der Zusatztitel Sozialmedizin zwar nicht in einem Jahr, wie in Baden-Württemberg vorgeschrieben, sondern innerhalb von drei Jahren erwerben, und Weiterbilder und Assistent sind nicht zwangsläufig jeden Tag zusammen an einem Ort, jedoch erfolgt regelmäßig eine nachgewiesene Besprechung und Supervision mit und durch den Weiterbilder. Und gerade das macht ja Weiterbildung aus und unterscheidet diese von theoretischer Wissensvermittlung: die Überführung der beruflichen Erfahrung von Weiterbilder und Assistent in sozialmedizinische Erkenntnisse und Sprache, die Ausbildung einer eigenen inneren Haltung durch die dialogische Qualität der Weiterbildung, die Reibung im kollegialen Diskurs sowie die gemeinsam erlebten und befundeten klinischen Zwangsläufigkeiten, Absonderlichkeiten, Möglichkeiten und Erfahrungen. Wenn die sozialmedizinische Legitimation zur Leitung einer Rehaklinik auf den Besuch der theoretischen Seminare und die Hospitation bei Sozialversicherungsträgern beschränkt würde, dann ließe sie die gesamte berufliche Erfahrung eines klinisch tätigen Arztes außer Acht.
Nach Ablehnung des Antrags auf Weiterbildungsermächtigung scheiterte der Versuch der Autorin, die Leistungsträger, die sozialmedizinisch qualifizierte Ärzte in den Kliniken brauchen und wünschen, und die Kammer, die die Weiterbildungsordnung verantwortet, zusammenzubringen und über eine praktikable und verantwortungsvolle Regelung der Weiterbildung im Sinne der klinisch tätigen Ärzte zu diskutieren.
Aktuell ist die Lage also so, dass Ärzte ohne Zusatztitel vom Leistungsträger in ihrer Funktion geduldet sind, die Deutungshoheit über das, was sie tun, obliegt somit aber auch dem Leistungsträger. Wie frei ist dann ein solcher Arzt? Wenn ein Arzt zu Diagnosen kommt, Behandlung plant und durchführt und den Nutzen dieser Behandlung am Ende durch den Entlassungsbericht überprüft und Empfehlungen abgibt, dann tut er das auf der Grundlage seiner Erfahrung, nach vielfältigem kollegialen Austausch und nach intensivem Befassen mit dem Patienten. Er leistet seine Unterschrift in der vollständigen und ernst gemeinten Verantwortung für das Behandlungsergebnis, verbindlich und zuverlässig für den Patienten, aber auch genauso justiziabel. Und das ist in den vielen Kliniken, in denen die leitenden Ärzte nicht den Zusatztitel Sozialmedizin erwerben können, die sich auf das Wort des Leistungsträgers verlassen, dass der Besuch der Seminare reiche, nicht mehr der Fall.
Die Autorin hatte 2010 für sich erfolglos die Weiterbildungsermächtigung für die Zusatzbezeichnung Sozialmedizin beantragt, um die leitenden Ärzte der genannten fünf Kliniken zu Sozialmedizinern ausbilden zu können. Letztendlich hat sie mit einer Klage beim Verwaltungsgericht in Mannheim in zweiter Instanz im Juni 2014 erstritten, dass die Weiterbildungsbefugnis zu erteilen sei, wenn ein Kammermitglied fachlich und persönlich geeignet und an einer zugelassenen oder zulassungsfähigen Weiterbildungseinrichtung tätig sei. Die Entscheidung über die Erteilung einer Weiterbildungsbefugnis sei, so das Urteil, keine Ermessensentscheidung der Landesärztekammer. Ausschlaggebend sei die fachliche und persönliche Eignung des Weiterbilders, die nicht in den Ermessensspielraum der Ärztekammer falle, sondern durch Kriterien wie z. B. umfassende Sachkunde, Erfahrung und Fertigkeiten auf dem Gebiet der Weiterbildung belegt werde. An dieser fachlichen und persönlichen Eignung der Autorin sowie an der Zulassungsfähigkeit der Weiterbildungseinrichtung hatte die Ärztekammer zu keinem Zeitpunkt Zweifel. Das Gericht urteilte ferner, dass weder die zeitliche Komponente (ganztägige Durchführung unter persönlicher Leitung) zur persönlichen Eignung gehöre, noch seien an die Eignung unverhältnismäßig hohe Anforderungen betreffend Einweisung und Überwachung des Weiterbildungsassistenten zu stellen.
Mit diesem Urteil ist die Bedeutsamkeit der Weiterbildung für die Qualität und den Bestand von Reha-Einrichtungen, für ganzheitliche sozialmedizinische Behandlung und Rehabilitation und für die Heranbildung ärztlicher Kollegen in der Sozialmedizin gewürdigt. Es stützt die notwendige Unabhängigkeit im ärztlichen Handeln. Die Weiterbildung basiert auf der qualifizierten Weitergabe von sozialmedizinischem Wissen und Denken, gewährleistet die Belegbarkeit einer Klinik und damit deren Existenz, sichert den sozialmedizinisch behandelnden und begutachtenden Arzt juristisch ab und steigert die Behandlungsqualität für die Patienten.
Der Autorin wurde nach dem Urteil von der Kammer in Aussicht gestellt, dass bei erneuter Beantragung die Weiterbildungsermächtigung selbstverständlich erteilt werde.
Kontakt:
über die Redaktion: redaktion@konturen.de
Angaben zur Autorin:
Dr. med. Ursula Fennen, MBA
Fachärztin für Psychiatrie
-Psychotherapie/Sozialmedizin/Rehabilitationswesen-
Suchtmedizinische Grundversorgung
Verkehrsmedizinische Qualifikation
Dr. Ursula Fennen ist ab 1. März 2016 als Chefärztin in der Fachklinik Hirtenstein, Bolsterlang, tätig.