Rita Hansjürgens

Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe

Rita Hansjürgens

Rita Hansjürgens

Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe ist seit den Anfängen der Versorgung Suchtkranker ein Teil des Hilfesystems. Obwohl regional oft akzeptiert und geschätzt, scheint bis heute im Fachdiskurs unklar zu sein, was genau Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe ist und wie sie ihre Aufgaben insbesondere im Umgang mit Konsumenten von legalen Suchtmitteln wahrnimmt. Im Rahmen einer qualitativen Arbeitsfeldanalyse wurden diese Tätigkeiten rekonstruiert. Sichtbar wurde, dass die Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe komplexe Tätigkeiten sowohl auf der Ebene des individuellen Kontakts (Mikroebene) als auch auf der Ebene der Vernetzung von Institutionen (Mesoebene) wahrnimmt, die deutlich über einfache Suchtanamnese und formale Vermittlungstätigkeit hinausgehen. Deutlich wurde aber auch, dass der formale Rahmen diese Tätigkeiten nicht abbildet und hier nur wenig Orientierung und Sicherheit gibt. Fachkräfte der Sozialen Arbeit brauchen ein deutlicheres Bewusstsein ihrer eigenen Expertise, und Konzepte der Sozialen Arbeit müssen expliziter in Organisationsstrukturen und Qualitätshandbücher Eingang finden, um Hilfepotentiale der Sozialen Arbeit dauerhaft für KlientInnen zu sichern.

Ausgangslage

Die ambulante Suchthilfe im Allgemeinen hat sich hervorgehend aus einer ehrenamtlichen Tätigkeit mit primär fürsorgerischer Intention professionalisiert. Heute umfasst sie ein weit differenziertes Angebot für Menschen mit Suchtverhalten oder seinen Vorstufen. Dies Angebot richtet sich an die Betroffenen selbst sowie an ihr soziales Umfeld, unabhängig von der Art und Weise der konsumierten Substanz oder der Verhaltensauffälligkeit, die im Zusammenhang mit Sucht steht. Das Angebot reicht von der ersten Kontaktaufnahme über Beratungsangebote, die Vermittlung in weitere suchtspezifische (Therapie-)Angebote und Nachsorge nach erfolgter Therapie bis hin zu Langzeitprozessen, die mit Unterbrechungen Jahre dauern können.

Seit ihrem Entstehen Anfang des 20. Jahrhunderts war die ambulante Suchthilfe ein multiprofessionell geprägtes Feld, zunächst durch die Berufsgruppen von Theologen und Diakonen, aber auch zum Teil durch Ärzte geprägt. Aber „seit der Nachkriegszeit strömten immer mehr Sozialarbeiter und Sozialpädagogen in das Feld der Suchthilfe. Sie wurden zu wesentlichen Trägern der Professionalisierung.“ (Helas 1997)

Heute hat sich die ehemals ehrenamtlich geprägte ambulante Suchthilfe zu einer professionellen Hilfeleistung entwickelt. Ambulante Suchthilfe besteht heute zu 98 Prozent aus ambulanten Beratungs- und Behandlungsstellen. Der multiprofessionelle Charakter dieses Arbeitsfeldes hat sich gehalten. Aktuell sind dort ÄrztInnen (zwei Prozent) genauso tätig wie PsychologInnen (elf Prozent) oder PädagogInnen, SozialwisssenschaftlerInnen und SoziologInnen (insges. acht Prozent). Aber bis heute stellen SozialarbeiterInnen mit 69 Prozent die größte akademisch ausgebildete Berufsgruppe in der ambulanten Suchthilfe dar (Pfeiffer-Gerschel et al. 2012). Dies bedeutet, dass die ambulante Suchthilfe bis heute ein klassisches Feld der Sozialen Arbeit ist und deshalb vornehmlich durch einen eher sozialarbeiterischen Habitus bzw. sozialarbeiterische Methoden geprägt sein müsste. Umso erstaunlicher ist, dass speziell für das Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit in der ambulanten Suchthilfe eine Analyse in Bezug auf ihre Tätigkeiten und Handlungsweisen nur begrenzt vorliegt und eher einen groben Überblick liefert oder sich vornehmlich auf die Arbeit mit KonsumentInnen von illegalen Suchtmitteln bezieht (Loviscach, Lutz 1996; Preuß-Ruf 2012; Stöver 2012). Dieser Befund war der Auslöser für den Versuch, Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe näher beschreiben zu wollen mit besonderem Fokus auf die Inhalte, auf methodisches Handeln und Professionalität.

Forschungsdesign

Fragestellung

Anhand von Selbstbeschreibungen der Fachkräfte sollte versucht werden zu klären, welche Aufgaben SozialarbeiterInnen im Kontext ambulanter Suchthilfe wahrnehmen und wie sie diese bearbeiten. Konkret sollte versucht werden herauszufinden, ob sich Handeln und Selbstwahrnehmung in ausgewählte Theorien und Konzepte der Profession Soziale Arbeit einordnen lassen und zu einer Arbeitsfeldbeschreibung verdichtet werden können.

Rechtliche Rahmenbedingungen und theoretische Grundlagen

Von Fachverbänden formulierte Standards und gesetzliche Rahmenvorgaben beschreiben, welche Aufgaben Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der ambulanten Suchthilfe wahrnehmen sollen. Als entsprechende Quellen wurden herangezogen:

  • „Mindeststandards der ambulanten Suchthilfe“ des Fachverbandes Drogen und Rauschmittel fdr (2005)
  • „Leistungsbeschreibung für Beratungs- und Behandlungsstellen“, herausgegeben von der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren DHS (1999)
  • „Suchthilfe im regionalen Behandlungsverbund“, ebenfalls von der DHS herausgegeben (1999)
  • Gesetz über den öffentlichen Gesundheitsdienst in Nordrhein-Westfalen (ÖGDG NRW), insbesondere § 16 Abs. 2 (Hilfen der unteren Gesundheitsbehörde für Abhängigkeitskranke)
  • Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG)
  • SGB VI § 13 Anl. 9 (= Anl. 3 zur Vereinbarung „Abhängigkeitserkrankungen“)
  • SGB VI § 13 Anl. 6

In den letzten Jahren wurden weitere Standards einer professionellen Sozialen Arbeit entwickelt und festgelegt. Zu nennen sind folgende theoretische Grundlagen:

  • Spezialisierung von klinischer Sozialarbeit als Fachsozialarbeit mit den methodischen Schwerpunkten „Beratung und Behandlung“ (Pauls, Gahleitener 2011)
  • Zuständigkeit und Ziele sozialer Arbeit in der Sozialpsychiatrie, welche sich konkret auf die „Schaffung von sozialen Erfahrungsräumen, Erfahrung von Sinn, Schaffung von Sicherheit und Selbstwirksamkeitserfahrungen“ beziehen (Sommerfeld et al. 2011)
  • „Multiperspektivisches Fallverstehen“ als Kernkompetenz „Sozialpädagogischen Könnens“ (Müller 2012)
  • Beschreibung eines Professionsideals Sozialer Arbeit mit den Dimensionen „Spezifisches Berufsethos, Fähigkeit zur Gestaltung eines Arbeitsbündnisses, Fähigkeit zum theoriegeleiteten Fallverstehen“ (Becker-Lenz, Müller 2009)

Forschungsgegenstand und Auswahl der GesprächspartnerInnen

Gegenstand dieser Forschungsarbeit waren Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die in der ambulanten Suchtkrankenhilfe arbeiten. Da sich Beschreibungen Sozialer Arbeit in der Suchthilfe vor allem auf den Bereich der Arbeit mit Abhängigen von illegalen Suchtmitteln beziehen, sollte in dieser Forschungsarbeit der Schwerpunkt auf der Sozialen Arbeit im Kontext mit Abhängigen von legalen Suchtmitteln liegen (vornehmlich Alkohol und Medikamente). Um eine Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wurden GesprächspartnerInnen aus dem eher ländlichen Raum mit einem Einzugsgebiet von ca. 150.000 bis 250.000 Einwohnern gesucht. Die Arbeitsstellen liegen teilweise in einem Flächenkreis und sind daher dezentral organisiert. Alle Beratungsstellen liegen in NRW, um von einer einheitlichen Rechtslage in Bezug auf die Finanzierung ausgehen zu können. Zustande kamen fünf Interviews mit drei weiblichen und zwei männlichen InterviewpartnerInnen im Alter von 36 bis 59 Jahren. Es handelt sich um festangestellte MitarbeiterInnen mit zehn bis 30 Jahren Berufserfahrung im Feld der Suchthilfe, davon vier bis 30 Jahre im untersuchten Einsatzgebiet. Die Interviewpersonen sind primär im Aufgabengebiet der allgemeinen Versorgung eingesetzt und nicht in einem Spezialfeld (z. B. Betreutes Wohnen, Prävention, ambulante Therapie), wobei berufliche Vorerfahrungen in diesen Feldern teilweise vorliegen.

Der explorative Charakter dieser Untersuchung legt eine quantitative Überprüfung der Ergebnisse zu einem späteren Zeitpunkt nahe, welche aktuell in Vorbereitung ist.

Erhebung der Daten

Es sollte ein qualitatives Design angewandt werden, das dazu geeignet ist, aus einer Beschreibung des konkreten Tuns verifizierbare Kategorien zu extrahieren. Daher wurde als Erhebungsmethode ein leitfadengestütztes Experteninterview mit festangestellten SozialarbeiterInnen der operativen Ebene in Anlehnung an Helfferich (2011) und Bogner (2009) gewählt. Als theoretischen Hintergrund für den Interviewleitfaden wurden die Theorieskizze Sozialer Arbeit mit Zuständigkeiten und Zielen Sozialer Arbeit in der Sozialpsychiatrie (Sommerfeld et al. 2011) sowie die Beschreibung eines Professionsideals von Sozialer Arbeit auf der Basis eines professionellen Habitus (Becker-Lenz, Müller 2009) herangezogen.

Auswertung der Daten

Die Interviews wiesen aufgrund der Unterschiede in Alter, Berufserfahrung im Feld, Zugang zur Suchtkrankenhilfe und Geschlecht der Befragten maximal kontrastierende Merkmale auf. Sie wurden in Anlehnung an Bohnsack (2003) transkribiert und in Anlehnung an das sequentielle Verfahren der objektiven Hermeneutik (Oevermann 1980) ausgewertet. In einer sich anschließenden vergleichenden Analyse wurden die gefundenen Fallstrukturen noch einmal verdichtet und in Bezug auf die Beantwortung der Forschungsfrage – welche Aufgaben übernehmen SozialarbeiterInnen im Kontext ambulanter Suchthilfe und wie nehmen sie dies wahr? – reformuliert. Dabei dienten die oben genannten theoretischen Grundlagen als „Folie“, um zu überprüfen, ob und wenn ja welche Elemente der aus der Theorie bekannten professionellen Weiterentwicklungen der Sozialen Arbeit in der Praxis der ambulanten Suchtkrankenhilfe auftreten und möglicherweise auch benannt werden.

Ergebnis der Untersuchung

Die Forschungsfrage setzte sich aus zwei Teilfragen zusammen. Für jede werden die Ergebnisse im Folgenden einzeln vorgestellt.

Welche Aufgaben übernehmen Fachkräfte der Sozialen Arbeit in der ambulanten Suchthilfe?

Als wichtigste Aufgabe wird auf der Ebene der direkten Arbeit mit den KlientInnen (Mikroebene) ein multiperspektivisches Fallverstehen gesehen, welches einen großen Raum einnimmt in der konkreten Arbeit. Diese diagnostische Herangehensweise ist die Grundlage für alle weiteren Tätigkeiten der Fachkräfte sowie auch für die Gestaltung eines Arbeitsbündnisses. Über das Fallverstehen und die Konstituierung des Arbeitsbündnisses, explizit auch in und mit Zwangskontexten (z. B. Druck durch den Arbeitgeber, Familienmitglieder, Führerscheinstelle), wird die in der Regel vorhandene Ambivalenz der KlientInnen bearbeitet (sog. Motivationsarbeit). Die Auflösung der Ambivalenz führt dann in der Interventionsphase entweder zu einer Vermittlung in weiterführende Hilfen, zu einer problemzentrierten Beratung innerhalb der Einrichtung oder zu einer (vorläufigen) Beendigung des Kontaktes.

Im Rahmen der Vermittlung übernimmt die ambulante Suchthilfe meist Lotsenfunktion für die KlientInnen im (Sucht-)Hilfesystem und leistet individuelle Hilfe und Unterstützung bei der Antragstellung. Diese direkte Vermittlung bezieht sich auf suchtbezogene Hilfen nach den SGB V und VI (Entgiftung und Therapie) oder die Vermittlung in Selbsthilfe oder andere nicht suchtspezifische Hilfen. Die Tätigkeit der Vermittlung wird von den Fachkräften weniger als „technischer oder administrativer Akt“ verstanden, sondern zum einen als aktive Biographiearbeit und erste Erarbeitung subjektiver weitergehender Therapieziele und zum anderen als Teil der Gestaltung eines Prozessbogens, der mit dem Fallverstehen beginnt und mit der vollzogenen Vermittlung nicht zwangsläufig enden muss. Der Bogen kann sich auf der Basis des sog. Arbeitsbündnisses in Zeiten des Übergangs fortsetzen (z. B. zwischen Therapie und Nachsorge oder bei Nicht-Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen), und die Beratungsstelle kann abermals als Schnittstelle zu einer weiter versorgenden Stelle fungieren.

Die durch die problemzentrierte Beratung und individuelle Hilfeplanung gewonnen Erkenntnisse in Bezug auf Notwendigkeiten der Hilfe für die Suchtkranken (z. B. bei neuen Trends des Substanzkonsums oder Veränderung der Lebensbedingungen der KlientInnen) führen zu einem vertieften Fallverstehen und fließen in die Vorschläge für eine Optimierung bzw. Anpassung der regionalen Versorgungssituation ein. Abbildung 1 stellt eine Visualisierung der gefunden Tätigkeiten dar.

Abb. 1: Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe – Mikroebene (eigene Darstellung)

Abb. 1: Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe – Mikroebene (eigene Darstellung)

Auf der Mesoebene (Strukturebene) sind als Aufgaben in erster Linie die Kooperation und Vernetzung – teilweise auch die aktive Initiierung und Pflege eines regionalen Suchthilfenetzes – auf der professionellen Ebene zu nennen. Diese Vernetzung erfolgt in Richtung der Hilfen nach SGB V und VI, aber auch in Richtung der Selbsthilfe und der nicht primär suchtbezogenen Hilfen. Als konkrete Elemente der Netzwerkarbeit konnten zum einen die Moderation von und Mitarbeit in Arbeitskreisen gefunden werden und zum anderen Kooperation und Konfliktmanagement mit zunächst eher losen Kontakten. Aus dieser Zusammenarbeit ergibt sich dann ebenfalls (wie auf der Mikroebene) ein Arbeitsbündnis, nun aber zwischen konkreten Organisationen. Über dieses Arbeitsbündnis werden dann feste Kooperationen, teilweise mit Festschreibung in Kooperationsverträgen, und Fortbildungen, z. B. für Einrichtungen der Jugendhilfe, Betriebe oder Einrichtungen der Arbeitsvermittlung, vereinbart (s. Abb. 2).

Abb. 2: Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe – Mesoebene (eigene Darstellung)

Abb. 2: Soziale Arbeit in der ambulanten Suchthilfe – Mesoebene (eigene Darstellung)

Mit Blick auf das Finanzierungssystem und die vorhandenen Standards kann festgestellt werden, dass die rechtsverbindlichen Vorgaben der gesetzlichen Grundlagen (ÖGDG und PsychKG) sich inhaltlich und fachlich vieldeutig gestalten und eine direkte Ableitung von Aufgaben nicht erlauben. Währenddessen haben die Fachstandards und Richtlinien der Leistungsträger der ambulanten Rehabilitation für diejenigen Einrichtungen, die eine solche im Haus anbieten, einen quasi Rechtsstatus, an dem sich die ganze Organisationsstruktur der Einrichtung orientiert, obwohl die Leistungen im Vorfeld einer ambulanten Therapie ausdrücklich nicht von der DRV und der GKV refinanziert werden. Die für die Umsetzung nötigen Ressourcen speisen sich aus den Leistungsverträgen, die mit den Kommunen auf der Basis des ÖGDG bzw. PsychKG ausgehandelt werden und letztlich eine freiwillige Leistung darstellen. Die eigentliche Versorgungsverpflichtung der unteren Gesundheitsbehörden bezieht sich auf die Vorhaltung eines Sozialpsychiatrischen Dienstes (§ 16, Abs. 2 ÖGDG, § 5 Abs. 1 S. 1 Psych KG).

Wie nehmen Fachkräfte der sozialen Arbeit ihre Aufgaben wahr?

Ein Vergleich der von den Fachkräften beschriebenen Tätigkeiten mit den oben genannten theoretischen Grundlagen professionellen sozialarbeiterischen Handelns ergab, dass die Tätigkeiten diesen im Wesentlichen entsprechen:

  • Die wahrgenommen Aufgaben mit ihrem vornehmlich beraterischen, therapienahen Schwerpunkt entsprechen einer Spezialisierung von klinischer Sozialarbeit als Fachsozialarbeit mit den methodischen Schwerpunkten „Beratung und Behandlung“ (Pauls, Gahleitener 2011).
  • Es kann davon ausgegangen werden, dass die Klärung der Ambivalenz der KlientInnen verbunden mit einer aktiven Unterstützung (nicht Übernahme!) bei der administrativen Beantragung weiterführender Leistungen dazu beiträgt, für die KlientInnen Sicherheit zu schaffen und sie in ihrer Selbstwirksamkeit zu stärken, wie dies als Zuständigkeit und Ziel der Sozialen Arbeit in der Sozialpsychiatrie beschrieben wird (Sommerfeld et al. 2011). Um dieses zu verifizieren, müsste eine Untersuchung aus der KlientInnenperspektive erfolgen.
  • Die Art des Fallverstehens zeigt deutliche inhaltliche und methodische Nähe zum multiperspektivischen Fallverstehen (Müller 2012) mit den Dimensionen „Fall von“ (fachlich-sachliche Bestandsaufnahme), „Fall für“ (konsiliarische Beteiligung anderer professioneller Hilfesysteme, teilweise auch mit Initiierung einer Akutversorgung) und „Fall mit“ (systematische Exploration der Sichtweise des Klienten/der Klientin selbst). Die Fachkräfte brachten eine Haltung zum Ausdruck, die die Autonomie der KlientInnen und eine Orientierung an deren biopsychosozialer Integrität betont.
  • Des Weiteren wurde, wie auch schon in den Ergebnissen zu den wahrgenommen Aufgaben dargestellt, ein Arbeitsbündnis geschlossen und gestaltet. Das von den Fachkräften dargelegte Wissen zeigt ein biopsychisches Verständnis von Sucht, das auf den Einzelfall bezogen, durch „Erfahrung“ ergänzt und in das Fallverstehen integriert wird. Dies bedeutet, dass hier alle Elemente eines Professionsideals (Becker-Lenz, Müller 2009) rekonstruiert werden konnten.

Professionstheoretisch bemerkenswert allerdings war der Befund, dass die Anwendung der beschriebenen Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit in keinem der untersuchten Fälle den Fachkräften bewusst war und als solche beschrieben werden konnte, weiter noch, dass die Fachkräfte die sozialarbeiterischen Konzepte gar nicht kannten. Die Erklärung liegt darin, dass alle Konzepte erst in jüngerer Zeit entwickelt wurden und damit noch nicht Teil der Ausbildung der Befragten waren. Dass die Fachkräfte dennoch danach handelten, ergibt sich daraus, dass sie ihr Tun in der Reflexion der Bedürfnisse und Wünsche der KlientInnen und der Möglichkeiten der organisationalen Rahmenbedingungen entwickelt haben und immer weiterentwickeln. Kristallisationspunkt des dargelegten Wissens ist ein in erster Linie biopsychisches Verständnis von Sucht. Das Wissen um die soziale Dimension wird durch die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung von Professionswissen in Fachteams und Supervision ergänzt. Dies bedeutet, sozialarbeiterisches Wissen wurde und wird in Fallbesprechungen, Intervision und Supervision entwickelt und fließt dann in Handlung und Organisationsstrukturen. Dieses speziell sozialarbeiterische Wissen ist aufgrund seiner fallbezogenen Entwicklung als so genanntes implizites Wissen zu kategorisieren. Somit entstehen die sozialarbeiterischen Interventionen und Organisationssturen auf Basis des in Beziehung Setzens von theoretischem (biopsychischem) Wissen, bereits erworbenem Professionswissen (Erfahrungswissen) und den Erfordernissen des konkreten Falls.

Diskussion

Im Rahmen der Untersuchung wurde deutlich, dass ambulante Suchtberatungsstellen strukturell eine vermittelnde Rolle einnehmen zwischen Maßnahmen zur Versorgung Hilfebedürftiger, welche in Leistungsverträgen zwischen den Ländern, Kommunen und einzelnen Beratungsstellen festgelegt werden, und Leistungen nach den SGB V und VI. Konkreter handelt es sich hierbei um eine exklusive Scharnierfunktion zu den Hilfen des Sozialgesetzbuches. Ziel ist die Klärung mit den KlientInnen, ob und wenn ja welche konkreten Maßnahmen in welchem Rahmen wann für den konkreten Einzelfall in Frage kommen. Die Bedeutung dieser Funktion für das Suchthilfesystem liegt darin, dass eine zeitlich und inhaltlich passgenaue Vermittlung in weiterführende Hilfen erfolgen kann. Dadurch werden diese Hilfen gewinnbringender und damit für das System ressourcenschonender von den KlientInnen genutzt, weil ihre Veränderungsmotivation ungleich höher zu sein scheint als die von KlientInnen, die diese Hilfen direkt aufsuchen oder ohne ausführliche Vorbereitung „technisch-admininstrativ“ vermittelt werden.

Dieser Effekt kann entstehen, so die Vermutung, weil es den Fachkräften gelingt, eine funktionale Arbeitsbeziehung – teilweise unter den Bedingungen eines Zwangskontextes (z. B. Druck durch den Arbeitgeber, Familienmitglieder, Führerscheinstelle) – zu den KlientInnen aufzubauen. Diese Arbeitsbeziehung ermöglicht die Auflösung der Ambivalenzen der KlientInnen bezüglich ihrer Veränderungsmotivation und die Gestaltung eines langfristigen Prozessbogens über den Rahmen einer aktuellen Behandlung hinaus. Dies erleichtert ein erneutes Hilfesuchverhalten bei Rückfällen. Aber auch wenn ein Hilfeprozess ohne weiterführende Maßnahmen abgebrochen wurde, besteht doch die Möglichkeit, dass die KlientInnen erneut Kontakt aufnehmen, da die Beendigung im Rahmen eines Arbeitsbündnisses und nicht im Rahmen eines Konfliktes erfolgte.

Diese Funktion der ambulanten Suchthilfe im Gesamtsystem der Suchthilfe hat sich historisch entwickelt, ist aber bis heute gesetzlich nicht normiert. Zwar ist die ambulante Suchthilfe aktuell noch mit Ressourcen ausgestattet, aber diese werden auf freiwilliger Basis von Kommunen und teilweise durch Länder, Projekte und Träger gegenfinanziert. Abgesehen von der Unsicherheit, die diese Situation für die Fachkräfte der Sozialen Arbeit und die Träger ihrer Organisation bedeutet, könnte diese Situation auch ein Risiko für die Versorgung Suchtkranker bzw. für die Effektivität von weiterführenden Maßnahmen insbesondere des SGB V und VI bedeuten, z. B. von Rehabilitationen oder Akutmaßnahmen wie Entgiftungen. Um möglichen Entwicklung in dieser Richtung vorzubeugen, ist es wichtig, dass die Fachkräfte der Sozialen Arbeit sich ihrer Bedeutung im Gesamtsystem der Suchthilfe bewusst werden und die von ihnen wahrgenommen Aufgaben formulieren und nach außen vertreten. Nur so können notwendige Ressourcen für diese Arbeit, die das Scharnier zwischen Fürsorge und medizinisch-rehabilitativer Versorgung bildet, dauerhaft legitimiert und damit gesichert werden. Insbesondere die gesetzliche Legitimierung unter expliziter Einbeziehung sozialarbeiterischer Expertise über eine kommunale Kann-Leistung hinaus ist entscheidend, um einheitliche Standards, Ausstattungen und Aufträge für Suchtberatungsstellen formulieren und mit Blick auf integrierte Versorgung weiterentwickeln zu können.

Implikationen für die Praxis

Soziale Arbeit liefert einen komplexen Beitrag zur Versorgung Suchtkranker und ihrer Angehörigen im ambulanten Kontext. Schwerpunkt dieser Arbeit ist, eine bezogen auf den jeweiligen Einzelfall und auf regionale Versorgungsstrukturen optimale Verbindung zwischen Fürsorge und medizinisch-rehabilitativer Versorgung und anderen Hilfsangeboten herzustellen. Fachkräfte der Sozialen Arbeit sollten sich ihrer speziellen Expertise insbesondere in Bezug auf das multiperspektivische Fallverstehen, den Aufbau eines tragfähigen Arbeitsbündnisses und die Gestaltung eines regionalen Hilfenetzes zur Optimierung der Versorgungsstrukturen bewusst werden. Konzepte der Sozialen Arbeit sollten explizit in Organisationskonzepte und Qualitätshandbücher als Standards mit aufgenommen werden, um die Ressourcen, die zu ihrer Umsetzung notwendig sind, dauerhaft zu sichern bzw. deren Evaluation und Weiterentwicklungen zu ermöglichen.

Interessenkonflikte: Die Autorin gibt an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Kontakt:

Rita Hansjürgens
Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn
Leostraße 19
33098 Paderborn
r.hansjuergens@katho-nrw.de
www.katho-nrw.de/paderborn

Angaben zur Autorin:

Rita Hansjürgens, M.A., Dipl- Sozialarbeiterin, ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Paderborn.

Literatur:
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  • Bogner, Alexander (2009): Experteninterviews. Theorien, Methoden, Anwendungsfelder. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss.
  • Bohnsack, Ralf (2003): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 5. Aufl. Opladen: Leske + Budrich (UTB, 8242).
  • Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hg.) (1999): Leistungsbeschreibung für Beratungs- und Behandlungsstellen der Suchtkrankenhilfe. Institut für Therapieforschung (IFT). Online verfügbar unter http://www.dhs.de/fileadmin/user_upload/pdf/Arbeitsfeld_Beratungsstellen/leistungsbeschreibung_1999.pdf, zuletzt geprüft am 26.03.2013.
  • fdr (Fachverband Drogen und Rauschmittel e. V.) (2005): Mindeststandards der ambulanten Suchthilfe. Vorschläge des Fachverbandes Drogen und Rauschmittel e. V. zu den Arbeitsgrundlagen von ambulanten Hilfen für Suchtkranke. Unter Mitarbeit von Michael Hoffmann-Bayer, Jost Leune und Birgit Wichelmann-Werth. Hannover, 2005.
  • Helas, Irene (1997): Über den Prozess der Professionalisierung in der Suchtkrankenhilfe. In: Elke Hauschildt (Hg.): Suchtkrankenhilfe in Deutschland. Geschichte, Struktur und Perspektiven. Freiburg im Breisgau: Lambertus, S. 147–161.
  • Helfferich, Cornelia (2011): Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Wiesbaden.
  • Kemper, Ulrich (2008): Der Suchtbegriff. Versuch einer Annäherung. In: Jahrbuch Sucht, S. 210–226.
  • Loviscach, Peter; Lutz, Roland (1996): Soziale Arbeit im Arbeitsfeld Sucht. Eine Einführung. Freiburg im Breisgau: Lambertus.
  • Moch, Matthias (2012): Die Lücke. implizites Wissen und das Theorie-Praxis-Verhältnis. In: neue praxis 42 (6), S. 555–565.
  • Müller, Burkhard (2012): Sozialpädagogisches Können. Ein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fallarbeit. 7. überarb. und erw. Aufl. Freiburg im Breisgau: Lambertus.
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  • Preuß-Ruf, Ulrike (2012): Ambulante Suchthilfe in Psychosozialen Beratungsstellen. In: Hans Joachim Abstein und Sigmund Gastiger (Hg.): Methoden der Sozialarbeit in unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Suchthilfe. [Methoden und Konzepte der Sozialen Arbeit in verschiedenen Arbeitsfeldern]. Freiburg im Breisgau: Lambertus (skills), S. 53–70.
  • Sommerfeld, Peter; Hollenstein, Lea; Calzaferri, Raphael (2011): Integration und Lebensführung. Ein forschungsgestützter Beitrag zur Theoriebildung der Sozialen Arbeit. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss.
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