Aktuelle Befragungen des SINUS-Instituts zu politischen Einstellungen in Deutschland und Österreich
In aktuellen Debatten zum Umfrage-Hoch der AfD gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze. Wenig wird dabei bislang betrachtet, wie sich die Wählerinnen und Wähler der AfD soziokulturell zusammensetzen, d. h. mit Blick auf ihre Werteorientierung.
Die Gesellschaftstypologie der Sinus-Milieus zeigt, in welchen gesellschaftlichen Gruppen populistische Narrative und Parteien Resonanz finden. Die Sinus-Milieus fassen Menschen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage zusammen. Demnach besteht die deutsche Gesellschaft derzeit aus zehn Milieus mit jeweils ähnlichen Werten, Lebensstilen oder Konsumverhalten. Die Sinus-Milieus sind Ergebnis der jahrzehntelangen soziokulturellen Forschung des SINUS-Instituts.
Bürgerliches Segment wächst unter AfD-Wähler:innen
In der Zusammensetzung der AfD-Wähler:innen zeigen sich deutliche Gewichtsverschiebungen in den letzten zwei Jahren. Laut repräsentativen Eigenforschungen des SINUS-Instituts gehörten 2021 43 Prozent der AfD-Wähler:innen dem bürgerlichen Segment an (Sinus-Milieus der Nostalgisch-Bürgerlichen, Adaptiv-Pragmatischen Mitte und Konservativ-Gehobenen). 2022 stieg dieser Anteil auf 50 Prozent, 2023 sind es 56 Prozent.
Dr. Silke Borgstedt, Geschäftsführerin des SINUS-Instituts, erläutert: „Die Milieus der Mitte, also das bürgerliche Segment, definieren in hohem Maß, was in einer Gesellschaft als normal gilt. Daher sind die Ergebnisse insbesondere mit Blick auf mögliche Kipp-Punkte in den politischen Mehrheitsverhältnissen von Bedeutung.“
Insbesondere steigt der Anteil der modernen Adaptiv-Pragmatischen Mitte (von zwölf Prozent auf 19 Prozent) und der Anteil der Konservativ-Gehobenen (von acht Prozent auf zwölf Prozent). Verglichen mit früheren Erhebungen des SINUS-Instituts zeigen diese beiden bürgerlichen Milieus derzeit ein stärkeres Interesse an der AfD.
Dem Milieu der Adaptiv-Pragmatische Mitte (zwölf Prozent der Gesellschaft) kommt eine besondere Rolle zu, denn sie ist eine wichtige Brücke zwischen progressiven und traditionellen Gruppen in der Gesellschaft. Sie bildet den modernen Mainstream, der sich stets im Spagat zwischen Spaß, Risiko und Aufbrechen sowie Sicherheit, Verankerung und Zugehörigkeit befindet.
In diesem Milieu findet sich ein großer Anteil an Wechselwähler:innen, die sich stark an tagesaktuellen Themenkonjunkturen orientieren. In jüngster Zeit sieht sich dieses eigentlich veränderungsbereite und zukunftsorientierte Milieu erheblichen transformativen Zumutungen gegenüber, die die Verwirklichung einer angestrebten bürgerlichen Normalbiografie von Haus, Kinder, Auto gefährden. Sie sind verunsichert und frustriert von der mangelnden Lösungsfähigkeit von Regierung und politischem System.
In diesem modernen Teil des bürgerlichen Segmentes ist diese Verunsicherung eine neue Entwicklung. Das Milieu der Nostalgisch-Bürgerlichen (elf Prozent der Bevölkerung) befürchtet schon seit Jahren Verluste. Die harmonieorientierte (untere) Mitte wünscht sich gesicherte Verhältnisse und einen angemessenen Status. Milieuangehörige empfinden starke Angriffe auf ihre Werte und Lebensstil, die bisher als „normal“ galten. Je stärker diese Entwertung empfunden wird, desto größer sind Frust und starke Nostalgiegefühle, also der Wunsch, dass alles so bleibt, wie es womöglich aber nie war.
Dr. Silke Borgstedt fasst zusammen: „Je mehr der Zukunftsoptimismus schwindet, desto mehr wächst der Anteil des bürgerlichen Segmentes unter AfD-Wähler:innen. Das bedeutet aber auch: Die gesellschaftliche Mitte ist für die Politik weiterhin erreichbar. Gewünscht ist eine konstruktive und zukunftsorientierte Politik. Die Mitte braucht eine Perspektive mit Zielorientierung und eine Roadmap, wie dies gelingen kann. Wir sehen auch: Bei der Frage nach langfristigen Parteibindungen, also welche Partei einem am nächsten steht, schneidet die AfD deutlich schlechter ab als in aktuellen Umfragen. Das heißt, die anderen Parteien können die Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen.“
Populistische Haltungen sind mehrheitsfähig in Deutschland und Österreich
Eine aktuelle Befragung des SINUS-Instituts zeigt insgesamt eine hohe Zustimmung zu populistischen Narrativen in Deutschland. Das Grundvertrauen in den institutionalisierten Politikbetrieb scheint gestört, aber der Glaube an die Demokratie wankt (noch) nicht.
So erreichen einige populistische Narrative (vgl. Andreas Zick, Beate Küpper (Hg.): Die geforderte Mitte. 2021) mittlerweile Mehrheiten in Deutschland:
- 68 Prozent stimmen zu, dass sich Politiker mehr Rechte herausnehmen als normale Bürger.
- 56 Prozent stimmen zu, dass Parteien nur die Stimmen der Wähler wollen, sich aber nicht für ihre Ansichten interessieren.
- Jeweils 53 Prozent stimmen zu, dass demokratische Parteien alles zerreden und keine Probleme lösen bzw. wichtige Fragen nicht in Parlamenten, sondern in Volksabstimmungen entschieden werden sollen.
- Die Aussage „Politiker und andere Führungspersönlichkeiten sind nur Marionetten dahinter stehender Mächte“ erreicht 49 Prozent
Gleichzeitig setzt ein großer Teil der Befragten weiterhin Vertrauen in die Demokratie. Es sind weiterhin nur Minderheiten, die demokratische Grundprinzipien in Frage stellen:
- 64 Prozent lehnen die Aussage ab, dass Demokratie eher zu faulen Kompromissen führt als zu sachgerechten Entscheidungen.
- 69 Prozent bestreiten, dass zu viel Rücksicht auf Minderheiten genommen wird.
- 62 Prozent sind der Meinung, dass wir in einem gerechten Land leben, in dem es jeder zu etwas bringen kann, der sich anstrengt.
Eine wenige Monate vorher mit identischen Fragen durchgeführte Befragung des SINUS-Partners INTEGRAL in Österreich zeigt, dass die Zustimmung zu populistischen Narrativen in Deutschland mittlerweile kaum von denen in Österreich abweicht. Zudem zeigen Befragungen in Österreich, dass die FPÖ die Adaptiv-Pragmatische Mitte schon seit langem erreicht.
Methodischer Hinweis
Anlass:
Eigenforschung von SINUS-Institut (DE) und INTEGRAL (AT); ergänzt um Vergleiche zu vorangegangen Studien mit SINUS-Kooperationspartnern (2021 und 2022). Für die Abfrage zum Populismus wurde u .a. die Itembatterie aus der „Mitte“-Studie von Zick und Küpper (2021) verwendet.
Befragung Deutschland:
Die verwendeten Daten beruhen auf einer Online-Umfrage (CAWI) des SINUS-Instituts im Online-Access-Panel der GapFish GmbH, an der 1.049 Personen zwischen 22.05. und 31.05.2023 teilnahmen. Die Ergebnisse wurden gewichtet und sind repräsentativ für die deutsche Bevölkerung ab 18 bis 69 Jahren.
Befragung Österreich:
Die verwendeten Daten beruhen auf einer Online-Umfrage (CAWI) von INTEGRAL unter Mitgliedern des AUSTRIAN ONLINEPOOL, an der 1.000 Personen zwischen 26.01. und 31.01.2023 teilnahmen. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die österreichische Bevölkerung ab 16 bis 75 Jahren.
Über das SINUS-Institut
Die SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH mit Standorten in Heidelberg und Berlin ist seit über 40 Jahren Spezialist für psychologische und sozialwissenschaftliche Forschung und Beratung. Das Institut entwickelt Strategien für Unternehmen und Institutionen, die den soziokulturellen Wandel als Erfolgsfaktor nutzen. Ein zentrales Tool dafür sind die Sinus-Milieus – ein Gesellschafts- und Zielgruppenmodell, das Menschen nach ihren Lebenswelten in „Gruppen Gleichgesinnter“ zusammenfasst. Die Sinus-Milieus zählen seit Jahrzehnten zu den bekanntesten und einflussreichsten Segmentationsansätzen und sind mittlerweile für über 48 Länder verfügbar. SINUS kooperiert eng mit den Schwesterunternehmen INTEGRAL Markt- und Meinungsforschung in Wien und OPINION Market Research & Consulting, Nürnberg (INTEGRAL-SINUS-OPINION Gruppe).
Pressestelle des SINUS-Instituts, 29.06.2023