Mitte-Studie 2022/23

Die Mitte der Gesellschaft wird zunehmend empfänglich für extremistische und demokratiefeindliche Einstellungen. Das zeigt die aktuelle Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Menschenfeindliche Einstellungen nehmen zu, ein Teil der Mitte radikalisiert sich.

Folgende Ergebnisse sind der Website der Friedrich-Ebert-Stiftung entnommen:

Rechtsextreme Einstellungen sind stark angestiegen und weiter in die Mitte gerückt.

Jede zwölfte Person in Deutschland teilt ein rechtsextremes Weltbild. Mit acht Prozent ist der Anteil von Befragten der Mitte-Studie 2022/23 mit klar rechtsextremer Orientierung gegenüber dem Niveau von knapp zwei bis drei Prozent in den Vorjahren erheblich angestiegen. Dabei befürworten mittlerweile über sechs Prozent eine Diktatur mit einer einzigen starken Partei und einem Führer für Deutschland (2014-2021: zwei bis vier Prozent). Über 16 Prozent behaupten eine nationale Überlegenheit Deutschlands, fordern „endlich wieder“ Mut zu einem starken Nationalgefühl und eine Politik, deren oberstes Ziel es sein sollte, dem Land die Macht und Geltung zu verschaffen, die ihm zustehe (2014-2021: neun bis 13 Prozent). Zudem vertreten die Befragten mit fast 6 Prozent vermehrt sozialdarwinistische Ansichten und stimmen zum Beispiel der Aussage zu „Es gibt wertvolles und unwertes Leben.“ (2014-2021: zwei bis drei Prozent). Auch der Graubereich zwischen Ablehnung und Zustimmung zu den rechtsextremen Einstellungen ist jeweils deutlich größer geworden. Die politische Selbstverortung von Befragten hat rechts der Mitte mit 15,5 Prozent ebenfalls von zuvor knapp zehn Prozent deutlich zugenommen.

Ein Teil der Mitte distanziert sich von der Demokratie, ein Teil radikalisiert sich.

Das Vertrauen in die Institutionen und in das Funktionieren der Demokratie sinkt auf unter 60 Prozent. Ein erheblicher Teil der Befragten vertritt verschwörungsgläubige (38 Prozent), populistische (33 Prozent) und völkisch-autoritär-rebellische (29 Prozent) Positionen. Im Vergleich zur Befragung während der Coronapandemie 2020/21 ist dies ein Anstieg um rund ein Drittel, und auch zum Jahr 2018/19 ist der Anteil potenziell demokratiegefährdender Positionen gestiegen. So denken beispielsweise inzwischen 32 Prozent, die Medien und die Politik würden unter einer Decke stecken (2020/21: 24 Prozent). Zudem stimmen in der aktuellen Mitte-Studie mit 30 Prozent fast doppelt so viele Befragte wie noch vor zwei Jahren der Aussage zu: „Die regierenden Parteien betrügen das Volk“, und ein Fünftel meint: „Unser Land gleicht inzwischen mehr einer Diktatur als einer Demokratie“ (2020/21: jeweils 16 Prozent). Die Billigung und Rechtfertigung politischer Gewalt haben auch deutlich zugenommen. 13 Prozent sind der Auffassung, einige Politiker:innen hätten es verdient, wenn „die Wut gegen sie“ in Gewalt umschlägt (2020/21: fünf Prozent).

Menschenfeindliche Einstellungen sind wieder auf hohem Niveau.

34 Prozent der Befragten meinen, Geflüchtete kämen nur nach Deutschland, um das Sozialsystem auszunutzen. 16,5 Prozent unterstellen jüdischen Menschen, heute ihren Vorteil aus der Vergangenheit des Nationalsozialismus ziehen zu wollen. Weitere 19 Prozent schließen sich diesem Vorwurf teilweise an – diese ambivalenten und uneindeutigen Haltungen gegenüber antisemitischen Positionen wie auch anderen Formen von Abwertungen und Vorurteilen nehmen zu. 17 Prozent machen die Identität von Trans*Menschen verächtlich und rund elf Prozent fordern, Frauen sollen sich wieder mehr auf die Rolle als Ehefrau und Mutter besinnen. Auch Klassismus als die Abwertung aufgrund des sozialen Status von Menschen ist weit verbreitet. Etwas mehr als ein Drittel teilt etwa die Auffassung, Langzeitarbeitslose würden sich auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machen (35 Prozent). Insgesamt übersteigt die Tendenz zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in der aktuellen Mitte-Studie sogar das hohe Vor-Corona-Niveau von 2018/19. Jede:r zehnte Befragte ist dabei grundsätzlich verschiedenen Minderheiten in der Gesellschaft gegenüber feindselig und diskriminierend eingestellt.

Eine nationale Orientierung zur Krisenbewältigung geht mit demokratiegefährdenden Einstellungen einher.

Angesichts der vielen jüngeren Krisen wie der Pandemie, dem Ukrainekrieg, der Inflation, dem Klimawandel und anderen ungelösten Problemen äußern rund 42 Prozent der Befragten Unsicherheit. Doch zur Frage, wie die Gesellschaft den Mehrfachkrisen begegnen soll, ist die Bevölkerung zwiegespalten: 53 Prozent befürworten eine Rückbesinnung auf das Nationale, fordern eine Schließung nach außen und erachten vermeintlich deutsche Werte, Tugenden und Pflichten als wesentlich für den Umgang mit den Krisen. Dies geht mit einer höheren Zustimmung zu demokratiegefährdenden Einstellungen einher. Demgegenüber stehen rund drei Viertel der Befragten zu einer offenen Gesellschaft und sagen, es komme jetzt vor allem auf Zusammenhalt (79 Prozent), Solidarität mit den Schwächsten (68,5 Prozent) und auch darauf an, auf die Wissenschaft und Expert:innen zu hören (62 Prozent). Diese Befragten haben wiederum deutlich seltener demokratiegefährdende und häufiger demokratiewahrende Einstellungen.

Die Mehrheit der Bevölkerung sieht den Klimawandel als große Bedrohung und hat eine klimapolitisch progressive Haltung.

Knapp ein Drittel zeigt Verständnis für die Proteste und Blockaden von Klimaaktivist:innen, und weitere 23 Prozent finden diese zumindest teilweise nachvollziehbar. Sorgen vor den Folgen des Krieges in der Ukraine wie etwa steigende Energiepreise dämpfen jedoch die Zustimmung zur Energiewende und zum Klimaschutz. Mit 26,5 Prozent aller Befragten meint sogar rund jede:r Vierte: „Wir sollten uns mit Russland einigen und wieder mehr Gas und Öl von dort beziehen.“ Wer darüber hinaus zum Krieg die Position vertritt, Russland wehre sich gegen eine „Bedrohung durch den Westen“ (22,5 Prozent), argumentiert auch sonst eher gegen die Energiewende und den Klimaschutz. Dieser Teil der Bevölkerung neigt wiederum deutlich häufiger zu Demokratiemisstrauen, Populismus und rechtsextremen Einstellungen. Umgekehrt gilt: Wer Vertrauen in die Demokratie hat, und Populismus zurückweist, ist klimapolitisch progressiver eingestellt. 65 Prozent der Befragten halten jedoch mehr Bürger:innenbeteiligung bei der Energiewende für nötig. Daran kann demokratische Kultur anknüpfen.

Einsamkeit und soziale Ungleichheit schwächen die gesellschaftliche Teilhabe und Demokratie.

13 Prozent der Befragten berichten, öfter oder häufig Einsamkeit zu erleben. Zugleich fühlen sie sich zuhause (28 Prozent), auf der Arbeit (36 Prozent), aber besonders auch im öffentlichen Raum (46 Prozent) vermehrt unwohl. Wer denkt, ausgeschlossen und isoliert zu sein, und das Gefühl hat, dass einem Gesellschaft fehlt, ist weniger krisenresilient, beteiligt sich politisch weniger und neigt eher zu menschenfeindlichen wie auch antidemokratischen Einstellungen als Personen, die seltener Einsamkeit erleben. Dabei wirkt sich der sozioökonomische Status ebenso auf das Erleben und Denken der Menschen zur Politik und Gesellschaft aus. Befragte mit weniger Einkommen, niedrigerem Schulabschluss sowie jene, die angeben, eher „unten“ in der Gesellschaft zu stehen, äußern häufiger Vorurteile gegenüber als „fremd“ markierten Gruppen. Doch gerade auch Befragte der sozioökonomischen Mitte gehen zunehmend auf gefährliche Distanz zu demokratischen Normen und Werten der Gleichwertigkeit aller Menschen. Entsicherung hat dabei ebenfalls einen entscheidenden Einfluss.

Print-Publikation:
Andreas Zick, Beate Küpper, Nico Mokros (Hg.)
Die distanzierte Mitte
Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung v. Franziska Schröter
Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2023
424 Seiten, 17,00 €
ISBN 978-3-8012-0665-9

Friedrich-Ebert-Stiftung, 21.9.2023