Lassen sich Kinder vom Stress ihrer Mütter anstecken?

Kinder können den akuten Stress ihrer Mütter subjektiv und körperlich messbar nachempfinden, sind zur Stress-Empathie fähig. Sie lassen sich aber weniger davon aus der Ruhe bringen als angenommen. Das ist das Ergebnis einer DFG-geförderten Studie im Rahmen des Forschungsprojektes „Empathic Stress in the Family System (EMILY)“ am Uniklinikum Jena und dem Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, die nun im renommierten „Journal of Experimental Psychology: General“ veröffentlicht wurde.

In der Arbeit steht ein wichtiges Projekt an, Überstunden, Arbeiten bis spät in die Nacht – und dann sind da noch die Kinder, die versorgt werden müssen: Viele Mütter erleben Stress nicht nur im Beruf, sondern auch zuhause. Hält eine derartige Beanspruchung über längere Zeit an, kann dieser Stress chronisch werden. Aber ist Stress wirklich nur eine individuelle Erfahrung? Was geschieht mit Kindern, die dauerhaft dem Stress der Mutter ausgesetzt sind? Genau dieser Frage geht ein Forschungsteam am Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie des Uniklinikums Jena (UKJ) um Veronika Engert, Professorin für Soziale Neurowissenschaft, in dem DFG-Forschungsprojekt nach: Lassen sich Kinder vom Stress ihrer Mutter anstecken? Das Ergebnis: „Kinder fühlen den akuten Stress ihrer Mütter sowohl emotional als auch physiologisch mit“, sagt Jost Blasberg, Psychologe und Erstautor der Studie.

Die Wissenschaftler haben sich zunächst auf die Übertragung emotionaler und körperlicher Zustände von Müttern auf ihre Kinder und somit auf die Mutter-Kind-Beziehung konzentriert. Die ist nicht nur besonders eng, sondern auch für die langfristige psychische Gesundheit von Kindern bedeutend. Das Besondere am Studienaufbau der Jenaer Psychologen: Beurteilt haben sie nicht die Reaktionen der Mütter auf die Stresserfahrungen ihrer Kinder, sondern die Reaktion der Kinder auf den akuten Stress der Mutter. In die Studie eingeschlossen wurden 76 Mütter und ihre Kinder im Alter zwischen acht und zwölf Jahren.

Jungen lassen sich eher vom Stress ihrer Mutter anstecken

Ein Teil der Kinder hat ihre Mütter bei einem klassischen Stresstest beobachtet, ein anderer Teil in einer Kontrollgruppe die Mütter beim Vorlesen. Ob sich die Kinder vom Stress ihrer Mutter anstecken lassen, haben die Wissenschaftler anhand von vier Stressindikatoren gemessen:

  • dem Kortisol-Spiegel – Kortisol, landläufig als Stresshormon bekannt, produziert unser Körper vermehrt bei Stress.
  • der Herzrate, also dem Pulsschlag – Je aufgeregter und damit gestresster wird sind, desto schneller schlägt unser Herz.
  • der Herzratenvariabilität, die zeigt, wie stark sich die Abstände der einzelnen Herzschläge im Laufe der Zeit verändern – Je niedriger die Herzratenvariabilität, desto höher ist das Stresslevel.
  • und einer subjektiven Stresseinschätzung – Sowohl Kinder als auch Mütter bewerteten ihren empfundenen Stress anhand einer Skala von eins bis sieben.

Im Ergebnis zeigte sich, dass die Kinder in der Stressgruppe den Stress ihrer Mutter tatsächlich mitempfanden. Das ließ sich konkret daran zeigen, dass die Kinder der gestressten Mütter eine stärkere subjektive Stressbelastung empfanden und, vor allem die Jungen, eine höhere Menge des Stresshormons Kortisol freisetzten. Außerdem wiesen sie einen stärkeren, mit den Müttern proportionalen, Abfall der Herzratenvariabilität auf. Ganz besonders niedrig war die Herzratenvariabilität bei Kindern, die sich gut in andere Menschen hineinversetzen konnten. Das wiederum ergab ein Fragebogen.

„Grundsätzlich lassen sich Kinder im mittleren Alter aber nicht so leicht vom Stress ihrer Mütter anstecken, wie wir das erwartet hatten. Überrascht hat uns auch ein bisschen, dass Jungen stärker auf den Stress ihrer Mütter reagieren als Mädchen im selben Alter. Dafür haben wir noch keine Erklärung“, sagt Psychologe Jost Blasberg. „Gezeigt hat sich aber auch, dass sich die Kinder in ihre Mütter hineinversetzen und ihren Stress nachempfinden können. Das ist gut, denn wer Stress nachempfinden kann, ist eher gewillt, anderen zu helfen.“

Die Jenaer Psychologen werden ihre Untersuchungen zur Stressübertragung weiterführen und als nächstes das Stressempfinden von Teenagern beobachten. Insgesamt erhoffen sich die Wissenschaftler, die Bedeutung und die Mechanismen der Stressübertragen innerhalb der Familie besser zu verstehen. Denn auch wenn in einzelnen Situationen eine Ansteckung mit dem Stress der Eltern sicherlich ungefährlich ist, „könnte angesichts der hohen kindlichen Abhängigkeit von den Eltern, gerade in Familien mit chronischer Stressbelastung, das häufige Erleben von empathischem Stress die kindliche Entwicklung negativ belasten“, so Professorin Engert, Leiterin der Arbeitsgruppe Soziale Neurowissenschaft.

Originalpublikation:
Blasberg JU, Jost J, Kanske P, Engert V. Empathic stress in the mother-child dyad: Multimodal evidence for empathic stress in children observing their mothers during direct stress exposure. J Exp Psychol Gen. 2023 Jun 8. doi: 10.1037/xge0001430.

Pressestelle des Universitätsklinikums Jena, 28.6.2023