Großindustrie behindert Gesundheitspolitik

Ein Bericht des WHO-Regionalbüros für Europa zeigt deutlich auf, wie bestimmte mächtige Industrien in ganz Europa und Zentralasien Krankheit und vorzeitiger Sterblichkeit Vorschub leisten, u. a. durch Einmischung in und Beeinflussung von Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von nichtübertragbaren Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Diabetes sowie deren Risikofaktoren wie Tabak- und Alkoholkonsum, ungesunde Ernährung und Adipositas. In dem Bericht werden die Regierungen dazu aufgerufen, Mechanismen zur Erkennung von Interessenkonflikten und zum Schutz staatlicher Politik vor Einflussnahme durch die Industrie einzuführen.

Der belgische Vizepremierminister und Minister für Soziales und Volksgesundheit, Frank Vandenbroucke, stellte den Bericht am 12. Juni auf einer eintägigen Veranstaltung in Brüssel vor, die in Verbindung mit dem „Europäischen Forum der WHO zu kommerziellen Determinanten von nichtübertragbaren Krankheiten“ stattfand und vom „Föderalen Öffentlichen Dienst Volksgesundheit, Sicherheit der Nahrungsmittelkette und Umwelt“ ausgerichtet wurde.

Der neue Bericht (in englischer Sprache) mit dem Titel „Commercial Determinants of Noncommunicable Diseases in the WHO European Region“ (dt. übers. „Kommerzielle Determinanten nichtübertragbarer Krankheiten in der Europäischen Region der WHO“) wirft ein Licht auf die vielfältigen Taktiken, die die Industrie einsetzt, um ihre Gewinne zu maximieren und die öffentliche Gesundheit zu untergraben. Diese Praktiken verstärken die Ungleichheit und die Raten von Krebs, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und chronischen Atemwegserkrankungen und stellen ein großes Hindernis für Präventionsmaßnahmen dar. Der Bericht zeigt Maßnahmen auf, die Staat, Wissenschaft und Zivilgesellschaft ergreifen können, um den unverhältnismäßig großen Einfluss der Privatwirtschaft auf die Gesundheitspolitik zu verringern.

Ungesunde Produkte: die großen Vier

Vier Produktgruppen – Tabak, stark verarbeitete Lebensmittel, fossile Brennstoffe und Alkohol – sind jährlich für 19 Millionen und damit 34 Prozent aller Todesfälle weltweit verantwortlich. Allein in der Europäischen Region sind diese vier Branchen ganz oder teilweise für 2,7 Millionen Todesfälle pro Jahr verantwortlich. In dem Bericht wird erläutert, wie die Konzentration der Macht auf eine kleine Zahl transnationaler Konzerne es diesen ermöglicht hat, erheblichen Einfluss auf das politische und rechtliche Umfeld zu nehmen und im öffentlichen Interesse liegende Rechtsvorschriften zu verhindern, die sich auf ihre Gewinnspannen auswirken könnten.

„Vier Branchen töten täglich mindestens 7.000 Menschen in unserer Region. Die großen Konzerne blockieren Gesetze, die die Öffentlichkeit vor schädlichen Produkten schützen und die Gesundheitspolitik vor der Einmischung der Industrie bewahren würden“, erklärte Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa. „Zu den Taktiken der Industrie gehören die Ausbeutung gefährdeter Menschen durch gezielte Werbestrategien, die Irreführung der Verbraucher und falsche Behauptungen über die Vorteile der Produkte oder deren Umweltfreundlichkeit. Diese Taktiken bedrohen die gesundheitlichen Errungenschaften des vergangenen Jahrhunderts und hindern die Länder daran, ihre Gesundheitsziele zu erreichen. WHO-Europa wird zusammen mit den politischen Entscheidungsträgern darauf hinarbeiten, die Taktiken zum Schutz vor und zur Verringerung des schädlichen Einflusses der Industrie wirksamer zu machen. Heute liefern wir unbestreitbare Beweise für schädliche Handelspraktiken und Produkte und sagen: Der Mensch muss immer Vorrang vor dem Profit haben.“

Taktiken der Industrie

Der Bericht zeigt deutlich, wie kommerzielle Akteure in verschiedenen Branchen, darunter fossile Energien, Tabak, Alkohol, Lebensmittel und Fleisch, nahezu identische Praktiken anwenden, um das strukturelle, politische und informationelle Umfeld zu beeinflussen. Ihre Hauptziele bestehen darin, Gewinne zu erwirtschaften, den Absatz ihrer Produkte zu maximieren und den Konsum anzukurbeln. Die Pharma- und Medizinprodukteindustrie beeinflusst auf ihre Weise ebenfalls die staatliche Politik zugunsten ihrer Produkte und Gewinne. Die Großindustrie wendet beträchtliche Mittel auf, um sich einer Regulierung im öffentlichen Interesse zu widersetzen, wissenschaftliche Erkenntnisse und die öffentliche Debatte zu beeinflussen und die Kosten für die von ihr verursachten Schäden auf die Menschen und ihre Umwelt abzuwälzen, wodurch die Belastung durch nichtübertragbare Krankheiten noch verstärkt wird.

Solche Taktiken zielen darauf ab, ganze Systeme – Gesundheit, Politik, Wirtschaft und Medien – im eigenen Interesse zu beeinflussen, was zu erheblichen gesundheitlichen und sozialen Schäden führt. Bisher haben die Maßnahmen einzelner Regierungen und zwischenstaatlicher Organisationen nicht ausgereicht, um diese schädlichen Handelspraktiken zu verhindern oder einzuschränken.

Einfluss auf Gesundheitsschutzkonzepte und Verfügbarkeit von Medikamenten

Der Bericht präsentiert eine Reihe von Fallstudien, die das Ausmaß und die Tiefe der Einflussnahme von Konzernen auf die staatliche Politik und politische Entscheidungsprozesse sowie die Auswirkungen auf alle Lebensbereiche der Menschen veranschaulichen. Darin wird beschrieben, wie die Großindustrie offene und verdeckte Methoden einsetzt, um Maßnahmen zur Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten zu verzögern, zu verhindern und zu blockieren, z. B. Maßnahmen zur Eindämmung des Tabakkonsums und die obligatorische Gesundheits- und Nährwertkennzeichnung von Lebensmitteln und Alkoholprodukten.

Neben den Taktiken zur Aushebelung von Gesundheitsschutzkonzepten dokumentiert der Bericht auch einige schädliche Praktiken der Industrie in Verbindung mit der Behandlung von Krankheiten, etwa die unausgewogene Preisgestaltung und Verfügbarkeit von Krebsmedikamenten und die Förderung von nicht evidenzbasierten und nicht regulierten Früherkennungstests.

Zu den üblichen Strategien der Branche gehört die gesamte Palette von politischer Lobbyarbeit über die Verbreitung von Fehlinformationen und Desinformationskampagnen in den Medien bis zu schädlichen Finanzpraktiken und speziell auf Kinder und Jugendliche abzielenden Werbestrategien.

Das Fehlen von Regulierungsmaßnahmen für die schädlichen Praktiken der Industrie hat dazu geführt, dass Macht und Einfluss der Privatwirtschaft gewachsen sind, während Wohlstand und Macht des Staats abgenommen haben, sodass die von der Industrie verursachten Gesundheitsschäden und insbesondere die Belastung durch nichtübertragbare Krankheiten, die 90 Prozent der Todesfälle in der Europäischen Region verursachen, fortbestehen.

Handlungsappell an die 53 Mitgliedstaaten in der Europäischen Region

„Wir müssen wirklich umdenken“, sagte Minister Vandenbroucke. „Zu lange haben wir Risikofaktoren als etwas betrachtet, das hauptsächlich mit individuellen Entscheidungen zu tun hat. Wir müssen das Problem als ein systemisches Problem begreifen, bei dem die Politik dem übermäßigen Konsum entgegenwirken, die Werbung beschränken und die Einflussnahme auf politische Entscheidungsprozesse beenden muss. Unsere bisherigen Bemühungen reichen noch nicht aus, um die gesundheitsschädlichen Praktiken kommerzieller Akteure und insbesondere der gesundheitsschädigenden Branchen zu regulieren. Ich fordere alle neu gewählten Parlamentarier und politischen Entscheidungsträger in Europa auf, das Ausmaß dieses Problems und die weitreichenden Auswirkungen zu erkennen, die die Praktiken der Industrie auf die öffentliche Gesundheit und letztlich unsere demokratischen Prozesse haben.“

Der Bericht ist ein Handlungsappell an die 53 Mitgliedstaaten in der Europäischen Region, der großen Bedrohung durch nichtübertragbare Krankheiten entgegenzuwirken, indem sie den kommerziellen Einfluss auf allen Ebenen – individuell, umweltbezogen, staatliche Politik und politisch-ökonomische Systeme – bekämpfen und strengere Vorschriften u. a. in folgenden Bereichen durchsetzen:

  • Vermarktung gesundheitsschädlicher Produkte
  • monopolistische Praktiken
  • Transparenz, Lobbyarbeit, Finanzierung und Interessenkonflikte
  • Besteuerung multinationaler Konzerne
  • Arbeitsplatzsicherheit und Arbeitsbedingungen
  • Ausbeutung gefährdeter Bevölkerungsgruppen in Krisenzeiten
  • Finanzierung und Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, um ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten

Darüber hinaus wird in dem Bericht empfohlen, dass Handelsabkommen der öffentlichen Gesundheit Vorrang einräumen und Wirtschaftsgesetze stärker gesundheitsorientiert ausgelegt werden sollen.

Bereits erzielte Erfolge

Manche Länder konnten trotz heftigen Widerstands der Industrie Erfolge erzielen. In Estland hat eine aus Zahnärzten, Krankenschwestern und Ärzten bestehende Koalition von Gesundheitspartnern dazu beigetragen, Gesetze zur Besteuerung von zuckergesüßten Getränken voranzutreiben. In Kirgisistan haben Frauenräte wesentliche Überzeugungsarbeit zur Verabschiedung von Maßnahmen zur Eindämmung des Tabakkonsums geleistet. In Slowenien konnte dank Mobilisierung nationaler und internationaler Organisationen der Zivilgesellschaft ein Tabakgesetz verabschiedet werden. Doch es muss noch viel mehr getan werden, um politische Entscheidungsträger und Vertreter öffentlicher Interessen dabei zu unterstützen, sich der Macht, den Ressourcen und der Lobbyarbeit der Industrie entgegenzustellen.

Herausforderung

Während der Vorstellung des Berichts erklärte Dr. Gauden Galea, Strategischer Berater der Sonderinitiative des Regionaldirektors für nichtübertragbare Krankheiten und Innovation beim WHO-Regionalbüro für Europa: „Die hinterhältigen Praktiken mächtiger Branchen sind nicht über Nacht entstanden, und sie werden auch nicht so schnell verschwinden. Vielmehr ist das eine langfristige Aufgabe, die in erster Linie politischen Willen erfordert. Wir sehen deutlich, wie sich das Verhalten der Großindustrie negativ auf die öffentliche Gesundheit auswirkt und unnötige Krankheiten und Leiden verursacht. Die verschiedenen Fallstudien in unserem Bericht zeigen das gegenwärtige Ausmaß der Einmischung der Industrie in unserer Region und dass unsere bisherigen Mechanismen zur Prävention nichtübertragbarer Krankheiten völlig untauglich sind. Im September 2025, auf der Tagung der Vereinten Nationen auf hoher Ebene zum Thema nichtübertragbare Krankheiten, müssen die Länder über ihre Fortschritte berichten, und die Zeit läuft.“

Pressestelle der World Health Organization (WHO), 12.6.2024