Größere Vielfalt bei Drogenangebot und Drogenkonsum schafft neue Herausforderungen für Europa
Die größere Vielfalt bei Drogenangebot und -konsum stellt die Drogenpolitik und das Gesundheitswesen in Europa vor neue Herausforderungen. Dies ist eines der Themen, die die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) am 16. Juni bei der Vorstellung ihres „Europäischen Drogenberichts 2023: Trends und Entwicklungen“ in Brüssel hervorhebt. Der Bericht gibt einen aktuellen Überblick über die Drogensituation in Europa und untersucht die wichtigsten Trends und aufkommenden Bedrohungen. Er basiert auf Daten aus dem Jahr 2021 und, soweit verfügbar, aus dem Jahr 2022. Die konkreten Daten im Detail sind für die verschiedenen europäischen Länder im Statistischen Bulletin zu finden.
Die Verfügbarkeit ist bei allen Drogen nach wie vor hoch, und der Umfang und die Komplexität der illegalen Drogenproduktion in Europa nehmen weiter zu. Menschen, die Drogen konsumieren, sind heute einer breiteren Palette psychoaktiver Substanzen ausgesetzt, die oft eine hohe Potenz und Reinheit aufweisen. Da diese in Form von ähnlich aussehenden Pulvern oder Pillen verkauft werden können, wissen die Konsumierenden möglicherweise nicht, was sie einnehmen. Der Bericht unterstreicht die Notwendigkeit wirksamer Risikokommunikationsstrategien, um die Konsumierenden auf die gesundheitlichen Schäden im Zusammenhang mit neuen Substanzen, Drogenwechselwirkungen und hochpotenten Produkten hinzuweisen.
Die Analyse deckt ein breites Spektrum an illegalen Drogen ab, von Opioiden und Stimulanzien bis hin zu neuen Cannabisprodukten und dissoziativen Drogen (z. B. Ketamin). Darüber hinaus bietet sie einen aktuellen Überblick über neue psychoaktive Substanzen (NPS), die weiterhin eine Herausforderung für die öffentliche Gesundheit in Europa darstellen. Allein im Jahr 2022 wurden dem Frühwarnsystem der EU (EWS) 41 neue Substanzen gemeldet, sodass die EMCDDA nun insgesamt 930 neue Drogen beobachtet.
Der Bericht unterstreicht den Bedarf an verbesserten forensischen und toxikologischen Daten, um die Bedrohung durch neue und starke synthetische Substanzen, Drogenmischungen, gepanschte Substanzen, sich verändernde Drogenmärkte und Konsummuster besser zu verstehen. Im Rahmen ihres neuen 2024 in Kraft tretenden Mandats – im Jahr 2024 wird die EMCDDA zur Drogenagentur der Europäischen Union (EUDA) – wird die Agentur ein europäisches Netz der forensischen und toxikologischen Laboratorien einrichten, um die Kapazitäten in diesem Bereich zu stärken.
Neue Entwicklungen in der Cannabispolitik auf einem komplexen Markt
Das Feld der Cannabispolitik in Europa wird allmählich ausgeweitet und umfasst nun nicht nur die Kontrolle von illegalem Cannabis, sondern auch die Regulierung von Cannabis und Cannabinoiden für therapeutische und andere Zwecke (z. B. Kosmetik, Lebensmittel).
Bislang haben fünf EU-Mitgliedstaaten (Deutschland, Luxemburg, Malta, die Niederlande und die Tschechische Republik) sowie die Schweiz neue Konzepte zur Regulierung des Angebots von Cannabis für den Freizeitkonsum eingeführt bzw. planen dies. Diese in dem Bericht dargelegten Änderungen machen deutlich, dass in die Überwachung und Bewertung investiert werden muss, um Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit und Sicherheit vollständig zu verstehen (vgl. hierzu die EMCDDA-Veröffentlichung „Cannabis laws in Europe: questions and answers for policymaking‟).
Cannabis ist nach wie vor die am häufigsten verbreitete illegale Droge in Europa. Schätzungen zufolge haben etwa acht Prozent (22,6 Millionen) der europäischen Erwachsenen (15–64 Jahre) im letzten Jahr Cannabis konsumiert. Im Jahr 2021 erreichten die in der EU beschlagnahmten Mengen an Cannabisharz (816 Tonnen) und Cannabiskraut (256 Tonnen) den höchsten Stand seit einem Jahrzehnt, was auf eine hohe Verfügbarkeit dieser Droge schließen lässt. In Europa begaben sich im Jahr 2021 schätzungsweise 97.000 Personen wegen Problemen im Zusammenhang mit dem Cannabiskonsum in eine Form der Drogenbehandlung.
Neue Cannabisprodukte stellen eine Herausforderung für die öffentliche Gesundheit dar. Einige Produkte, die auf dem illegalen Markt als natürliches Cannabis verkauft werden, können mit starken synthetischen Cannabinoiden versetzt sein, was die Gefahr von Vergiftungen birgt. Hochwirksame Extrakte und Edibles wurden in den Notaufnahmen der Krankenhäuser mit akuten Vergiftungen in Verbindung gebracht.
Im Jahr 2022 wurde mit Hexahydrocannabinol (HHC) das erste halbsynthetische Cannabinoid in der EU gemeldet. Es wurde in zwei Dritteln der Mitgliedstaaten festgestellt und wird in einigen EU-Ländern als „legale“ Alternative zu Cannabis verkauft. Seit Oktober 2022 wird HHC im Rahmen des EU- Frühwarnsystems (EWS) intensiv überwacht, um die potenziellen Risiken für Europa besser zu verstehen.
Rekordbeschlagnahmungen von Kokain und wachsende Besorgnis über den Konsum synthetischer Stimulanzien
Der Handel mit großen Mengen Kokain in handelsüblichen Containern über europäische Seehäfen ist der Grund für die hohe Verfügbarkeit dieser Droge. Es wird befürchtet, dass diese Situation zu erhöhtem Kokainkonsum, Gesundheitsschäden und Drogenkriminalität beitragen könnte.
Im Jahr 2021 wurde in den EU-Mitgliedstaaten die Rekordmenge von 303 Tonnen Kokain beschlagnahmt. Auf Belgien (96 Tonnen), die Niederlande (72 Tonnen) und Spanien (49 Tonnen) entfielen zusammen 75 Prozent der sichergestellten Gesamtmenge. Vorläufige Daten für 2022 zeigen, dass die Menge des in Antwerpen, dem zweitgrößten Seehafen Europas, beschlagnahmten Kokains von 91 Tonnen im Jahr 2021 auf 110 Tonnen gestiegen ist. Es gibt Hinweise darauf, dass die organisierte Kriminalität zunehmend auch kleinere Häfen in anderen EU-Ländern sowie in den an die EU angrenzenden Ländern ins Visier nimmt.
Die illegale Kokainherstellung in der EU gewinnt immer mehr an Bedeutung. 2021 wurden 34 Kokainlaboratorien ausgehoben (23 im Jahr 2020), von denen einige in großem Maßstab betrieben wurden. Kokain ist in Europa die am häufigsten konsumierte illegale Stimulanzdroge, die im letzten Jahr von etwa 1,3 Prozent (3,7 Millionen) der europäischen Erwachsenen (15–64 Jahre) konsumiert wurde. Es war im Jahr 2021 die häufigste Substanz im Zusammenhang mit akuten Vergiftungen in den Notaufnahmen der Krankenhäuser und wurde in 27 Prozent der Fälle genannt. Es gibt auch Anzeichen dafür, dass der injizierende Kokainkonsum und der Crack-Konsum in einigen Ländern in Randgruppen zunehmen, so dass die Maßnahmen zur Schadensbegrenzung ausgeweitet werden müssen. Im Jahr 2021 haben schätzungsweise 7 500 Personen eine Behandlung in Zusammenhang mit Crack begonnen.
Die größere Vielfalt an synthetischen Stimulanzien, die jetzt auf dem illegalen Markt erhältlich sind, erhöht die Risiken für die öffentliche Gesundheit. In der Vergangenheit war Amphetamin das am häufigsten verwendete synthetische Stimulanz in Europa. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass sowohl Methamphetamin als auch synthetische Cathinone heute stärker als in der Vergangenheit zu den Problemen in Europa im Zusammenhang mit Stimulanzien beitragen.
In dem Bericht heißt es auch, dass Stimulanzien jetzt häufiger injiziert werden, manchmal in Kombination mit Heroin oder anderen Opioiden. Hierzu müssen Maßnahmen entwickelt werden, die die mit diesem Verhalten verbundenen Schäden verringern.
Potenzielle Gesundheitsrisiken durch nicht so bekannte Stoffe
Ketamin, das in der Medizin als Narkosemittel und Schmerzmittel verwendet wird, hat sich in einigen Bereichen als Freizeitdroge etabliert. Es wird häufig geschnupft und manchmal auch anderen Drogenmischungen, einschließlich MDMA-Pulvern und -Tabletten, beigemischt. Bei Langzeitkonsumenten von Ketamin können gesundheitliche Probleme auftreten (z. B. Blasenschäden).
Der zunehmende Freizeitkonsum von Distickstoffoxid (Lachgas) in einigen Teilen Europas gibt Anlass zur Sorge. In einer kürzlich durchgeführten EMCDDA-Studie wurde auf die mit der Droge verbundenen Risiken hingewiesen. Die Droge ist nun offenbar leichter zugänglich, billiger und bei einigen jungen Menschen beliebt. Zu den Risiken gehören Vergiftungen, Verbrennungen und Lungenverletzungen sowie in einigen Fällen bei längerem Gebrauch auch Nervenschäden. Es spricht viel dafür, dass sich die Angebote für Drogenprävention und Schadensbegrenzung in ihrer Arbeit mit dieser Substanz befassen. Die Vorschriften für den Verkauf und die Verwendung dieser Substanz sind von Land zu Land unterschiedlich.
Der Bericht geht auch auf das wachsende Interesse am therapeutischen Potenzial psychedelischer Drogen ein. Zwar liegen vielversprechende Forschungsergebnisse über das Potenzial dieser Substanzen zur Behandlung verschiedener psychischer Erkrankungen vor, doch wird in dem Bericht auf die Gefahr hingewiesen, dass in und außerhalb der EU unkontrollierte Programme betrieben werden. Das wachsende Interesse an diesem Thema könnte zu einem verstärkten experimentellen Konsum dieser Substanzen ohne medizinische Unterstützung führen, wodurch vulnerable Personen in Gefahr geraten könnten.
Europas Opioidprobleme entwickeln sich weiter
Heroin ist nach wie vor das am häufigsten konsumierte illegale Opioid in Europa, aber in einigen Regionen wächst auch die Besorgnis über den Konsum synthetischer Opioide. Viele synthetische Opioide sind hochwirksam und bergen die Gefahr von Vergiftungen und Tod. Es werden nur geringe Mengen benötigt, um Tausende von Dosen herzustellen, was sie zu einer potenziell lukrativeren Substanz für organisierte kriminelle Banden macht.
Auf dem europäischen Drogenmarkt tauchen immer wieder neue unkontrollierte synthetische Opioide auf; seit 2009 wurden insgesamt 74 davon identifiziert. In den letzten Jahren handelte es sich bei den meisten der neu identifizierten Opioide, die dem EWS gemeldet wurden, um hochwirksame Benzimidazol- (Nitazen-)Opioide. Im Vergleich zu Nordamerika spielen neue synthetische Opioide (z. B. Fentanyl-Derivate und Nitazene) derzeit auf dem europäischen Drogenmarkt insgesamt eine relativ geringe Rolle, obwohl sie in einigen Ländern ein großes Problem darstellen.
Neue synthetische Opioide (einschließlich Benzimidazole und Fentanyl-Derivate) wurden in den baltischen Ländern mit einem Anstieg der Todesfälle durch Überdosierung in Verbindung gebracht. In Estland wurden neue synthetische Opioide in Mischungen gefunden, die ein Benzodiazepin und das Beruhigungsmittel Xylazin für Tiere enthalten. Diese Kombinationen, die als „Benzo-Dope“ bzw. „Tranq-Dope“ bekannt sind, wurden in Nordamerika mit Todesfällen durch Überdosierung in Verbindung gebracht. In dem Bericht heißt es: „… auch wenn die Probleme in diesem Bereich derzeit relativ begrenzt sind, stellt diese Gruppe von Substanzen eine Bedrohung dar, die sich in Zukunft stärker auf die Gesundheit und die Sicherheit in Europa auswirken kann.“
Die Verfügbarkeit von Heroin scheint derzeit weiterhin hoch zu sein. Die von den EU-Mitgliedstaaten beschlagnahmte Menge an Heroin hat sich im Jahr 2021 mit 9,5 Tonnen mehr als verdoppelt, während in der Türkei eine Rekordmenge von 22,2 Tonnen beschlagnahmt wurde. Fast das gesamte in Europa konsumierte Heroin stammt aus Afghanistan, wo die Taliban im April 2022 ein Verbot des Anbaus von Schlafmohn verkündet haben. Es ist zwar noch zu früh, um zu sagen, wie sich das Verbot auf den europäischen Heroinmarkt auswirken wird, aber es wird befürchtet, dass eine Verknappung der Droge mit einem Anstieg von Angebot und Nachfrage bezüglich synthetischer Opioide einhergehen könnte.
Pressestelle der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA), 16.6.2023