Arbeiterschaft ist kaum noch im Deutschen Bundestag vertreten
Im Deutschen Bundestag sind immer weniger Arbeiterinnen und Arbeiter vertreten, während der Anteil von Abgeordneten mit Hochschulbildung zunimmt. „In den vergangenen 30 Jahren ist eine Akademisierung der politischen Elite zu beobachten“, erklärt Dr. Lea Elsässer von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). „Dies führt dazu, dass vor allem untere soziale Klassen im Parlament nicht angemessen repräsentiert sind.“ Die Politikwissenschaftlerin befasst sich mit der Frage, wie der zunehmende Ausschluss von Arbeiterinnen und Arbeitern aus politischen Ämtern zu erklären ist. Ihre Habilitation wird von der Hans-Böckler-Stiftung mit einem Maria-Weber-Grant unterstützt.
Größere Vielfalt auf der einen Seite – soziale Verengung auf der anderen Seite
Die meisten Parlamente in westlichen Industrienationen sind heute vielfältiger besetzt als noch vor einigen Jahrzehnten. Insbesondere der Frauenanteil hat zugenommen. Allerdings hat sich im gleichen Zeitraum eine andere Entwicklung vollzogen: eine zunehmende soziale Verengung der beruflichen Hintergründe. Dabei nimmt zum einen der Anteil von Abgeordneten aus nicht-akademischen Berufen ab, während zum anderen der Anteil von professionalisierten Berufspolitikern und Berufspolitikerinnen mit hohen Bildungsabschlüssen steigt. „Im Deutschen Bundestag haben aktuell nur fünf Prozent der Abgeordneten eine längere Zeit in einem nicht-akademischen Beruf gearbeitet, bevor sie ins Parlament gewählt worden sind“, so Lea Elsässer. Zum Vergleich: 40 Prozent der arbeitenden Bevölkerung sind in einem Arbeiterberuf tätig. Es gebe Parteien, so Elsässer, in denen nur noch Akademiker vertreten sind. „Die Perspektive der Arbeiter und Arbeiterinnen ist damit völlig ausgeschlossen.“
Interessen von nicht repräsentierten Gruppen geraten aus dem Blick
Die Politikwissenschaftlerin verweist dazu auf Untersuchungen aus den USA, wonach Abgeordnete aus der Arbeiterschaft bei wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen eher linkere Positionen vertreten als ihre Parteikollegen und dies unabhängig von der Parteizugehörigkeit. Außerdem steht zu befürchten, dass Wählerinnen und Wähler aus unteren Einkommens- und Berufsgruppen sich von den politischen Parteien abwenden, wenn sie sich nicht mehr repräsentiert fühlen.
Datenbank erfasst Infos über Abgeordnete seit Anfang der 1970er Jahre
Bei der Erforschung des jüngsten Trends konzentriert sich Elsässer, Wissenschaftlerin am Institut für Politikwissenschaft der JGU, besonders auf zwei Akteure: linke Parteien und Gewerkschaften. Im Falle der Parteien stellt sich unter anderem die Frage, wie die Nominierungsprozesse ablaufen und wer für einen sicheren Wahlkreis oder einen Listenplatz aufgestellt wird. Die Gewerkschaften wiederum dürften in der Vergangenheit als wichtiges Sprungbrett für eine Karriere in der Politik gedient haben – was hat sich hier vielleicht geändert? Und wie hat sich das Verhältnis der Gewerkschaften zu den Parteien entwickelt?
In Interviews mit Abgeordneten und mit Vertretern von Gewerkschaften und Parteien wird Lea Elsässer den Fragen und dem Phänomen der zunehmenden Exklusion von Arbeiterinnen und Arbeitern aus politischen Ämtern auf den Grund gehen. Außerdem hat sie eine Datenbank erstellt, die Informationen über alle Abgeordneten im Deutschen Bundestag seit Anfang der 1970er Jahre enthält. Für eine Untergruppe von mehreren hundert Personen wird die gesamte Erwerbsbiografie vor deren Eintritt ins Parlament erfasst, um so typische Karrierewege aufzuzeigen.
Für ihr Habilitationsprojekt erhält Lea Elsässer einen Maria-Weber-Grant der Hans-Böckler-Stiftung. Der Grant ist mit 40.000 Euro ausgestattet und dient dazu, während zwei Semestern eine Teilvertretung für die Lehrverpflichtungen zu finanzieren und damit zeitliche Freiräume zu schaffen.
Pressestelle der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 27.8.2024