BTHG und Eingliederungshilfe Sucht

Was bewegt sozialtherapeutische Einrichtungen im Kontext des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) und der Eingliederungshilfe Sucht? Mit dieser Fragestellung lassen sich die vielfältigen Inhalte des 4. Fachtages für Soziotherapeutische Einrichtungen beschreiben, zu dem der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss) am 21.02.2018 nach Kassel eingeladen hatte.

Vorstandsmitglied Andreas Reimer (Deutscher Orden Suchthilfe) skizzierte in seiner Einführung aktuelle fach- und sozialpolitische Entwicklungen und Herausforderungen für suchtspezifische Einrichtungen der Eingliederungshilfe. Gleichzeitig lenkte er den Blick auf die noch junge Geschichte des Fachtages und dessen Bedeutung für die Praktiker: Einige Mitglieder des buss betreiben neben Einrichtungen der stationären und ambulanten medizinischen Rehabilitation auch komplementäre Einrichtungen der Eingliederungshilfe Sucht. Anlass für den ersten Fachtag für Soziotherapeutische Einrichtungen 2015 waren die Vorboten des BTHG und der Bedarf der Leitungskräfte und Betreiber soziotherapeutischer Einrichtungen, die eigenen fachlichen und strukturellen Konzepte rechtzeitig hinsichtlich der Anforderungen der Gesetzgebung zu analysieren und ggf. anzupassen.

Die durchweg sehr guten Bewertungen der bisherigen Fachtage motivieren die Vorbereitungsgruppe, auch für das kommende Jahr wieder ein Programm mit relevanten Themen und Trends für die Praxis zusammenzustellen. Das breite Fach- und Vernetzungswissen innerhalb der Suchthilfelandschaft und die Themenwünsche der Teilnehmer/innen werden dabei eingebunden.

Wirkung und Wirkungsmessung

Was konkret ist zu tun, um die Herausforderungen des BTHG zu meistern, die Chancen im Sinne einer noch besseren personenzentrierten Teilhabe von Suchtkranken zu nutzen und – ganz im Sinne einer qualitativen Hebelwirkung – die komplementären (zumeist noch stationären) Einrichtungen für chronisch mehrfachbeeinträchtigte Suchtkranke aus dem Schattendasein herauszuholen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt des diesjährige Fachtages.

Der Vormittag stand thematisch unter dem BTHG-Schlagwort „Wirkung“. Robert Meyer-Steinkamp (Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld, Hamburg) stellte in seinem Beitrag BADO Hamburg – Erfassung und Auswertung von Daten aus der Eingliederungshilfe dar, wie es in Hamburg gelingt, die Ergebnisqualität der umfassenden Eingliederungsleistungen für Suchtkranke abzubilden. Eindrucksvoll und überzeugt stellte Meyer-Steinkamp die Arbeit des gemeinsam von Leistungsträger und Leistungsanbietern getragen Vereins BADO e.V. vor. Anders als in vielen anderen Bundesländern ist die Basisdokumentation in Hamburg auch in der Eingliederungshilfe Pflicht, so dass seit 2011 alle ambulanten und (teil-)stationären Angebote Daten liefern. Dass sich die – zugegeben nicht immer beliebte – Erbsenzählerei lohnt, stellte er anhand des Spezialthemas im Statusbericht 2015 vor. Aus allen Datensätzen der letzten sechs Jahre wurden so genannte Intensivnutzer der Hamburger Suchthilfe herausgefiltert und hinsichtlich ihrer Beratungs-, Behandlungs- und Betreuungsepisoden sowie der dabei erreichten Gesamtergebnisse untersucht. In den beispielhaft vorgestellten Teilhabebereichen zeigten sich für die Leistungsberechtigten trotz oder wegen der ‚Drehtür-Verläufe‘ spürbare Verbesserungen ihrer Lebens- und Teilhabesituation, die zwar für den Praktiker vor Ort und im Einzelfall erwartbar waren, aber eben ohne die Datenerhebung und -auswertung nicht in der Quantität belegbar wären.

Es wäre wünschenswert, wenn auch andernorts die Chancen der Basisdokumentation erkannt und genutzt würden. Nach einer Auswertung des IFT Institut für Therapieforschung zur Deutschen Suchthilfestatistik für das Jahr 2014 ergab sich eine Beteiligung von nur 105 ambulanten und (teil-)stationären Einrichtungen der Eingliederungshilfe mit rund 5.500 Fällen. Die Datenlage und ihre Aussagekraft könnte mit einer stärkeren Beteiligung der Träger deutlich verbessert werden. Die aktuelle Ausdifferenzierung des Kerndatensatzes 3.0 und stärkere Berücksichtigung von Angeboten der Eingliederungshilfe kann ein guter Anlass sein, jetzt in die Datenerhebung einzusteigen.

Mit der Aussage, Wirksamkeit und Wirkung seien zunächst einmal zu differenzieren, führte anschließend Prof. Dr. Andrea Riecken (Hochschule Osnabrück) in ihren Vortrag ein. Unter dem Titel Anforderungen an Wirkungsmessung in der Eingliederungshilfe stellte sie grundlegende forschungsmethodische Herausforderungen bei der Evaluation Sozialer Arbeit und ihrer Dienstleistungen vor. Die Komplexität von Wirkfaktoren und deren Zusammenspiel soll die Praxisforschung allerdings nicht länger davon abhalten, die Wirkung z. B. der Fachleistung innerhalb der Eingliederungshilfe Sucht wissenschaftlich sauber zu belegen. Damit kann auch der Erhalt und die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe-Leistungen im Sinne der Klienten vorangetrieben werden.

Nach diesen beiden Beiträgen mochte so manche/r Zuhörer/in angesichts der Überschrift des Vortrages von Dieter Adamski (Therapiehilfe e.V., Hamburg/Bremen) zunächst aufatmen: Basisdokumentation und Wirksamkeitsmessung – Was ist in der Praxis leistbar? Allerdings verdichtete Adamski die vielfältigen Anforderungen an Leitung, Fach- und Hilfskräfte zu prägnanten Forderungen im Rahmen einer weiteren Professionalisierung der Eingliederungshilfe Sucht im Sinne der Etablierung eines Qualitätsmanagements. Sofern nicht bereits ein Umdenken erfolgt ist, wird es nun höchste Zeit. Dabei ist der Gestaltungsspielraum, den ein proaktives Vorgehen der Einrichtungen, ihrer Träger und Fachverbände bietet, pragmatisch zu nutzen. Qualitätssicherung soll dabei keinen Selbstzweck erfüllen, sondern die kontinuierliche Weiterentwicklung von strukturellen und fachlichen Standards sowie die Abbildung der Ergebnisqualität der Leistungserbringer unterstützen. Nur so können komplementäre und am individuellen Teilhabebedarf und Teilhabeplan ausgerichtete Eingliederungshilfe-Angebote erhalten und zukunftssicher weiterentwickelt werden: „Wir wissen, wann und wie wir unsere Kunden unterstützen, wir dokumentieren es jedoch (noch) nicht sachgerecht, um mit den Ergebnissen an die Öffentlichkeit zu treten. Denkbar wären Katamnesen, wie es in der medizinischen Rehabilitation üblich ist.“ Gleichzeitig forderte Adamski finanzielle und personelle Ressourcen: „Wer Wirksamkeitsmessung in der Eingliederungshilfe umsetzten will, muss in Forschung investieren und für die Praxis handhabbare Instrumente entwickeln, die auch zu den Berufsgruppenprofilen der Eingliederungshilfe-Einrichtungen passen.“

Die Mittagspause bot Gelegenheit zu einem persönlichen und informellen Austausch der Teilnehmenden. Der Fachtag wurde in sechs Arbeitsgruppen zu Anforderungen und Chancen rund um die Umsetzung des BTHG fortgesetzt.

Anforderungen und Chancen bei der Umsetzung des BTHG

Prof. Dr. Johannes Schädler (Universität Siegen) gab in seiner Arbeitsgruppe Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung: Herausforderung und Chance für Suchtkranke und Leistungserbringer zunächst einen Überblick über die Begrifflichkeiten und die historische Entwicklung von Bedarfsermittlung und Teilhabeplanung. Weiter ging er auf die Herausforderungen und Chancen für Suchtkranke und Leistungserbringer in dem Prozess ein und betonte die aus seiner Sicht dringend notwendige und gesetzlich verankerte Steuerungshoheit der Leistungsträger: „Wer den Gesamtplan verfasst, steuert de facto das (Teilhabeplan-)Verfahren.“ Seine weitere Aufforderung „Weg von dem (einrichtungsbezogenen) Platzierungsdenken und -handeln hin zu einer Steuerung der EGH durch die Leistungsträger im Sinne einer personenzentrierten Teilhabeplanung“ eröffnete einen Diskurs unter den Teilnehmenden zur Bedeutung des Teilhabeplanverfahrens für die Eingliederungshilfe Sucht. Hieraus entstanden neue Fragen zu folgenden Themen:

  • Teilhabeberatung von Suchtkranken (z. B. Suchtberatung, Sozialdienste in der Entgiftungsbehandlung und der medizinischen Rehabilitation, gesetzliche Betreuer),
  • Unterstützungsmöglichkeit von Suchtkranken und Beteiligung der Leistungserbringer im Bedarfsermittlungsverfahren,
  • Perspektiven der Studien zur Entwicklung des Personenkreises nach § 99 SGB IX-neu (Wie wird der geringe Anteil der Suchtkranken (vier Prozent) an allen Menschen mit Behinderung in den Studien z. B. hinsichtlich der Rechtsfolgen berücksichtigt? Exklusion durch ‚5 aus 9‘?),
  • sozialpolitische Aktivitäten in Bezug auf die länderspezifischen Ausführungsgesetze und Verordnungen.

Chancen für behinderte oder von Behinderung bedrohte Suchtkranke bestehen in einem regional ausdifferenzierten Suchthilfeangebot, welches aus ambulanten Einrichtungen und stationären bzw. besonderen Wohnformen sowie tagesstrukturierenden und arbeitsmarktbezogenen Angeboten bestehen kann. Dazu könnten die multiprofessionellen Teams der Träger und die Vernetzungsqualität genutzt werden.

Stephan May (Hohage, May & Partner – Rechtsanwälte/Steuerberater, Hamburg) referierte in seiner Arbeitsgruppe Heimverträge und Betreuungsverträge – neue Anforderungen im Rahmen des BTHG?! zu den Anforderungen an Wohn- und Betreuungsverträge von ambulanten Einrichtungen und besonderen Wohnformen. Diese AG war rasch nach Anmeldebeginn des Fachtages ausgebucht, der hohe juristische Beratungsbedarf in diesem Feld spiegelte sich in der Diskussion und den Fragestellungen der Teilnehmenden wider.

In der Arbeitsgruppe Inklusion in CMA-Einrichtungen gab Janina Tessloff (Therapiehilfe e.V., Bremen) Impulse zu folgenden Fragen:

  • Wie müssen die inklusiven Strukturen aussehen, damit sie Teilhabeprozesse begünstigen?
  • Inwieweit und wie weit wollen unsere Bewohner/innen überhaupt Inklusion?
  • Wie können Mitarbeitende zur Teilhabe motivieren, gibt es Grenzen und worin liegt die Verantwortung der Einrichtung?

Die Teilnehmenden kamen rasch in einen Austausch über die bereits gelebte Praxis und der Spezifika von Suchtkranken. Tessloff formuliert in ihrer Präsentation ein gemeinsames Fazit: „Inklusion kann auch Überforderung bedeuten. Viele unserer Klienten können ihre Bedürfnisse nicht adäquat artikulieren, Selbsteinschätzung ist ein Lernprozess. Viele äußern eher den Wunsch nach Integration: Indem sie sich in der schützenden Einrichtung beheimaten, verweigern sie sich den Anforderungen der Gesellschaft und dem Inklusionsgedanken. Inklusion steht hier erst am Ende eines langen Weges, Integration ist die Vorstufe. Das stationär und ambulant betreute Wohnen arbeitet schon seit langem inklusiv, indem stetig an dem Teilhabeprozess der Betroffenen gemeinsam mit ihnen gearbeitet wird. Die Gesellschaft, die Politik muss nun nachziehen, indem Strukturen entstehen, die unsere Klientel, ohne von ihnen beeinträchtigt zu werden, nutzen kann.“

Der Impetus des BTHG im Sinne einer stärkeren Personenzentrierung und Verzahnung von Rehabilitationsleistungen mit dem Ziel einer gelingenden Teilhabe und verbesserter Aktivität einerseits und die zugespitzte Koppelung von Suchterkrankung und Wohnungslosigkeit andererseits lenkten auf die Schnittstelle zwischen Wohnungslosenhilfe und Sucht- bzw. Eingliederungshilfe neue Aufmerksamkeit. Gabriel Blass (Haus Eichen, Blankenrath) griff dieses Thema in seiner Arbeitsgruppe Schnittstelle zwischen Wohnungslosenhilfe und Eingliederungshilfe auf. Das vorgestellte Angebot bietet wohnungslosen Suchtkranken eine zweimonatige Orientierungs- und Stabilisierungsmöglichkeit, an die sich weiterführende Behandlungs- und Betreuungsangebote nahtlos anschließen können. Solche Angebote bestehen bundesweit vereinzelt als „Vorsorge“, Vorschaltphase, Betreutes Wohnen für Gefährdete, Übergangswohnen etc. Ihre Finanzierung erfolgt aktuell noch im Rahmen des SGB XII als so genannte § 67er Hilfe oder auch auf Grundlage des § 53.

In der Arbeitsgruppe Was ist das eigentlich: Soziotherapie oder Sozialtherapie? Leitlinie für neue Mitarbeitende von Nicolai Altmark und Andreas Guder (beide Diakonisches SuchtHilfeZentrum Flensburg) standen Newcomer unter den Mitarbeitenden der Einrichtungen im Focus. Neben der Klärung der verschiedenen Bezeichnungen für Leistungen von Eingliederungshilfe-Einrichtungen in der Suchthilfe (Soziotherapie, Sozialtherapie, soziale Rehabilitation) standen Leitlinien für neue Mitarbeiter zur Diskussion.

Das BTHG schreibt ICF-basierte Bedarfsermittlungsinstrumente und eine klare ICF-Orientierung im Teilhabeplanverfahren verbindlich vor. In allen Segmenten der Suchthilfe-Angebote kommt der Kenntnis und Anwendung der ICF – z. B. mit entsprechenden Instrumenten in der Beratung, Behandlung und Vermittlung von Suchtkranken mit Behinderung (oder die davon bedroht sind) – eine zunehmende Bedeutung zu. Eine differenzierte, leistungsbegründende Beschreibung der suchtbedingten Behinderung, der damit einhergehenden Einschränkungen der funktionalen Gesundheit sowie der daraus resultierenden Teilhabebedarfe wird mit Blick auf die Definition des leistungsberechtigten Personenkreises in Zukunft noch wichtiger sein als in der Vergangenheit. Maren Spies (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) und Robert Meyer-Steinkamp (Therapeutische Gemeinschaft Jenfeld, Hamburg) stellten in ihrer Arbeitsgruppe MCSS (Modulares Core Set Sucht) – Entwicklungsstand und Perspektiven zur Umsetzung der ICF in der Suchthilfe das Konzept und die Anwendung der ICF vor und gaben Einblick in den aktuellen Entwicklungsstand des Modularen Core-Sets Sucht. So genannte Core-Sets bieten störungsspezifische Listen typischer Funktionsbeeinträchtigungen, so dass die insgesamt 1442 Items der ICF in der Praxis handhabbar werden. Das MCSS bietet neben einem Basis-Set weitere Modul-Sets für verschiedene Settings der Suchtkrankenversorgung. In einer Studie wird aktuell die Validität der Item-Listen in den verschiedenen Settings untersucht.

In dem abschließenden Vortrag Modellprojekt zur Trennung existenzsichernder Leistungen von den Fachleistungen und zur Leistungssystematik gab Olaf Bauch (Landschaftsverband Rheinland, FB Sozialhilfe, Köln) einen Ausblick auf Zuordnungs- und Rechenmodelle, die für die länderspezifischen Vereinbarungen Pate stehen könnten. Neben der differenzierten Berechnung von existenzsichernden Leistungen und Fachleistungen stellt die Umstellung von der bisherigen Anrechnung von Einkommen und dessen Einzug durch die Leistungsträger auf ein Kostenbeitragsverfahren eine besondere Herausforderung für die Leistungserbringer dar. In der Suchthilfe ist mit einem Aufwand durch Forderungsmanagement zu rechnen – keine verlockende Aussicht für die Verwaltungen der Einrichtungen und sicherlich auch eine Herausforderung für die multiprofessionellen Betreuungsteams. Es darf mit einem weiteren Diskurs zum Wert Sozialer Arbeit gerechnet werden.

Die Tagungsbeiträge stehen – wie auch die Präsentationen der vorangegangenen Fachtage – auf der Homepage des buss zum Download bereit (www.suchthilfe.de > Veranstaltungen > Workshops).

Darüber hinaus bieten folgende Online-Präsenzen Materialien und Informationen zum BTHG:
www.reha-recht.de
www.umsetzungsbegleitung-bthg.de

Text: Martina Tranel
Mitglied der Vorbereitungsgruppe Fachtag für Soziotherapeutische Einrichtungen, Veranstalter: buss e.V.
Dipl.-Sozialarbeiterin/Dipl.-Sozialpädagogin, Sucht- und Sozialtherapeutin
Leiterin der Einrichtung Theresienhaus, Glandorf, CRT – Caritas Reha und Teilhabe GmbH
Vorstandsmitglied der DGSAS – Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe e.V.