Jost Leune

Zeit der Berichte

Prolog

Jost Leune

Jost Leune

Das Jahr 2016 ist für die Suchthilfe bislang kein gutes. Es setzt sich fort, was wir schon in den Vorjahren beobachten mussten: Die Prävention hangelt sich von Projekt zu Projekt, die ambulante Suchthilfe verhungert wegen ihrer immer kleineren Budgets, in der medizinischen Rehabilitation fallen die Fallzahlen, die Teilhabe für langzeitarbeitslose Suchtkranke ist kompliziert, ineffektiv und bürokratisch, und die Sorgen mit der Nachsorge bleiben. Das Frühjahr 2016 ist die Zeit der Berichte. Die Jahresberichte der Suchthilfeträger beschreiben diese wachsenden Schwierigkeiten eindrucksvoll und beschreiben dennoch eindrucksvolle Leistungen. Auch die Institutionen berichten.

Jahrbuch Sucht 2016: 278 Seiten geballte Information

Den Reigen eröffnete am 3. Mai die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen mit dem Jahrbuch Sucht 2016. Im Rahmen einer Pressekonferenz wurde das seit über einem halben Jahrhundert bewährte Nachschlagewerk präsentiert. Es liefert 25 Seiten „Daten, Zahlen und Fakten“ und ausführliche Beiträge zu Suchtstoffen, Suchtformen und ihren Auswirkungen, zum Beispiel im Straßenverkehr. 278 Seiten geballte Information, und dennoch bleibt ein schales Gefühl zurück: Im Jahr 2016 fehlt das Kapitel über die „Versorgung Suchtkranker“. Das ist irritierend, da doch die DHS als Zusammenschluss der Suchtkranke versorgenden Träger Herausgeberin des Jahrbuchs ist und die bemerkenswerte Analyse „Suchthilfe und Versorgungssituation in Deutschland“ erst im vergangenen Jahr online gestellt wurde.

Europäischer Drogenbericht 2016: Grafik satt und voller Fakten

Am 31. Mai hatte die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) ihren Auftritt. Sie stellte den Europäischen Drogenbericht vor. Er ist, nach Aussage von Dimitris Avramopoulos, Europäischer Kommissar für Migration, Inneres und Bürgerschaft, für europäische Entscheidungsträger ein hilfreiches Instrument für die Gestaltung von politischen Strategien und Maßnahmen zur Drogenbekämpfung. Nach einer vorangestellten Zusammenfassung beschreibt der Bericht in drei Kapiteln Drogenangebot und Markt, Prävalenz und Trends des Drogenkonsums sowie drogenbedingte Schädigungen und diesbezügliche Maßnahmen. Zehn Seiten mit Tabellen über Länderdaten runden das Angebot ab. Eine überwältigende Vielfalt von bunten Karten, Grafiken und Schmuckelementen lassen den Text fast schon in den Hintergrund treten, obwohl man ihn nicht unterschätzen sollte: Da steckt richtig viel Wissen drin! Wer sich die Zeit nicht nehmen will, den Bericht durchzuarbeiten, kann auch die Presseinformation zum Drogenbericht lesen.

3. Alternativer Drogen- und Suchtbericht 2016: Das Forum der Forderungen

Wieder eine Pressekonferenz, diesmal am 6. Juni: Der 3. Alternative Drogen- und Suchtbericht 2016 wird vorgestellt. Kernforderung: Eine andere Drogenpolitik und ein anderer Umgang mit Drogen. Das ist bei den Herausgebern akzept e. V. Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik, Deutsche AIDS-Hilfe e. V. und JES Bundesverband e. V. keine besondere Überraschung. Die Forderungen werden untermauert auf 280 Seiten Text in vier Kapiteln: Es geht um alternative Drogenpolitik, um Risikokonstruktionen in Drogenforschung und -politik, um Verbraucher*innenschutz und Prävention und um die weitere Entwicklung der Drogenhilfe. In 37 Beiträgen entwerfen 55 Autoren*innen ihre Visionen einer anderen Drogenpolitik in Deutschland, die auch schon mal verwirren können – Seite 29: Kritik an Repräsentativbefragungen, Seite 78: Interpretation von Repräsentativbefragungen. Mindestens die Hälfte der Autoren*innen stammt aus dem akademischen Bereich, andere sind Journalisten*innen, und eine deutliche Minderheit stammt aus der Praxis der akzeptierenden Drogenarbeit, also der Suchthilfe. Das ist kein Zufall, denn die Herausgeber haben vor der Veröffentlichung einen Aufruf zur Einreichung von Beiträgen gemacht. Da kann es leicht passieren, dass Mitteilungsbedürfnis über Praxisbezug dominiert. Anregungen, politisch anders zu handeln, bietet der Bericht in Hülle und Fülle und auch einige sehr bemerkenswerte Beiträge, wie zum Beispiel den über „Hochglanz und Elend der Tabakkontrolle in Deutschland“ (zählt man alle Maßnahmen zur Verhaltens- und Verhältnisprävention zusammen, landet Deutschland auf dem vorletzten Platz bei der Tabakkontrolle in Europa), über „Synthetische Cannabinoide“ (ein praxisorientierter Erfahrungsbericht!) oder über „11 Jahre SGB II/Hartz IV – Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation suchtmittelabhängiger Menschen“ (der trotz guter statistischer Daten leider kaum Hinweise gibt, wie das Problem „Teilhabe an Arbeit“ für Suchtkranke zu lösen sei).

Drogen- und Suchtbericht 2016 der Drogenbeauftragten: Vor allem bunt

Die Drogenbeauftragte folgte am 9. Juni. Unter dem Motto „Mehr Achtsamkeit für unsere Gesundheit schaffen!“ wandte sie sich an die Presse, um ihren Drogen- und Suchtbericht 2016 zu präsentieren. Und es sind sogar zwei Berichte geworden. Der eine heißt „Drogen- und Suchtbericht“ und der andere ganz prosaisch „Anhang“. Im ersten finden sich fünf Kapitel zu den Themen „Suchtstoffe und Suchtformen“, „Schwerpunktthemen der Drogenbeauftragten“, „Suchtstoffübergreifende Prävention, Beratung und Behandlung“, „Gesetzliche Regelungen und Rahmenbedingungen“ und „Internationales“. Der Anhang zeigt, nach Mortlers Anmerkungen im Vorwort, „wie vielfältig die Drogen- und Suchtpolitik insgesamt ist“, indem er „eine Auswahl aktueller Projekte aus den Bundesländern, aus Vereinen und Verbänden“ enthält. Im Vorwort bemerkt die Drogenbeauftragte ferner, sie sei stolz darauf, den „Bericht in moderner, komprimierter und kurzweiliger Form präsentieren zu können“. Modern? Ja. Komprimiert? Und wie. Aber kurzweilig? Sucht- und Drogenprobleme sind nicht kurzweilig. Sie sind langwierig, dramatisch und existenzbedrohend.

Dieser Bericht ist eine bunte Aneinanderreihung von Fakten und Projektberichten und bietet eine unübersehbare Vielfalt. „Managing Diversity“ ist das Gebot der Stunde, aber hier wird die Vielfalt nicht organisiert, sondern willkürlich aneinandergereiht. Es ist und bleibt nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien die eingereichten Beiträge zur Veröffentlichung ausgewählt wurden. Während die Verfasser*innen 22 Seiten mit dem Kapitel „Prävention“ füllen, umfasst das Kapitel zu Beratung und Behandlung zwei (!) Seiten Text. Darin fehlen Alkoholabhängige fast komplett, in Details werden stets die Konsumenten*innen illegaler Drogen, und davon vor allem Cannabiskonsumenten*innen, genannt.

Dem Versorgungssystem, das nach dem Jahresbericht der Deutschen Suchthilfestatistik für das Jahr 2014 341.963 ambulante Betreuungen und 49.297 stationäre Behandlungen in 837 ambulanten und 206 stationären Einrichtungen durchgeführt hat, gebührt mehr Platz. Zur Erinnerung: Insgesamt gibt es in Deutschland über 1.400 Suchtberatungsstellen, 13.000 stationäre Suchttherapie-Plätze und fast 25.000 Plätze in Wohnheimen der Sozialhilfe. Das sind zumindest halbwegs regelhaft finanzierte Angebote für Suchtkranke. Der Drogen- und Suchtbericht bezieht sich zum überwiegenden Teil auf kurzfristig finanzierte Präventionsprojekte, die nach der Modellphase häufig wieder eingestellt werden (müssen). Von einem regelhaften, bedarfsorientiert finanzierten Angebot der Suchtprävention und Gesundheitsförderung ist Deutschland weit entfernt. Auch wenn Gesundheitspolitik Ländersache ist – die Herstellung gleicher Lebensbedingungen ist Sache der Bundesregierung. Das steht sogar im Grundgesetz.

Es geht doch besser

Es gibt auch einen Bericht, der alle unsere Fragen beantwortet und sogar noch die, von denen wir gar nicht wussten, dass wir sie haben: Im November erscheint jährlich der Reitox-Bericht der deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD). Da ist nun aber wirklich alles drin, was es an Fakten, Hintergrundinformationen, Zusammenhängen und Fragen rund um das Thema „illegale Drogen“ gibt. Na also, geht doch!

Epilog

„Das Jahr 2016 ist kein gutes für die Suchthilfe“, schrieb ich eingangs. Während das im Alternativen Drogen- und Suchtbericht zumindest anklingt und aus dem Reitox-Bericht heraus interpretiert werden kann, erfährt man bei den anderen berichterstattenden Institutionen nichts davon. Sucht- und Drogenprobleme zu beschreiben, heißt nicht, bei den Phänomenen zu verweilen und staatliche Ausgaben zu legitimieren. Sucht- und Drogenprobleme treffen den einzelnen Menschen in seiner Existenz, in seinem Lebensumfeld und in seinen Perspektiven. Das (immer noch) sehr gut ausgebaute Verbundsystem der Suchthilfe hilft, Abhängigkeitserkrankungen zu überwinden, gibt Menschen Hoffnung und Familien Rückhalt. Zehn Millionen von Suchterkrankungen betroffene und bedrohte Menschen und weitere zehn Millionen mitbetroffene Angehörige machen die Abhängigkeit zur Volkskrankheit. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass die Behandlung von Suchterkrankungen unter Rechtfertigungsdruck steht und in der Realität nur nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden Mittel erfolgen kann. Das soll an dieser Stelle auch berichtet werden.

Kontakt:

Jost Leune
Fachverband Drogen- und Suchthilfe e. V (fdr)
Gierkezeile 39
10585 Berlin
leune@fdr-online.info

Angaben zum Autor:

Jost Leune ist Geschäftsführer des Fachverbands Drogen- und Suchthilfe e. V. (fdr) und Mitglied im Fachbeirat von KONTUREN online.