Eine Bestandsaufnahme
Wie in vielen Bereichen des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens hat die Corona-Pandemie auch in der Suchtkranken- und Drogenhilfe zu stark veränderten Arbeitsweisen geführt. Die Hamburgische Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) als Dachverband, in dem 40 verschiedene Träger, Verbände und Akteur*innen der Hamburger Suchtkranken- und Drogenhilfe organisiert sind, hat im März 2021 unter ihren Mitgliedern eine Umfrage durchgeführt. Ziel war es, die veränderten Arbeitsprozesse und Klient*innen-Strukturen sowie Probleme im Alltag, aber auch Chancen und Wünsche für die Zukunft, zu erfassen bzw. davon einen Eindruck zu bekommen. Der für die Umfrage eingesetzte Fragebogen ist auf der Website der HLS als Muster abruf- und einsehbar.
Insgesamt 23 ausgefüllte Bögen wurden an die Landesstelle zurückgesendet. Pro Fragebogen konnten Angaben zu verschiedenen Bereichen der Suchthilfe gemacht werden. Die Ergebnisse der Umfrage werden in dem hier vorliegenden Bericht unterteilt in die einzelnen Bereiche dargestellt. Am Ende folgen bereichsübergreifende wichtige Aspekte. Die Umfrage und Auswertung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und erfüllt keine wissenschaftlichen Standards. Ziel war und ist es, Kenntnisse über die Situation der Hamburger Suchthilfelandschaft während der Pandemie zu gewinnen und daraus mögliche Bedarfe und Wünsche für die Zukunft abzuleiten.
Beratung
Arbeitsprozesse
Zehn Beratungsstellen gaben per Fragebogen Rückmeldungen an die HLS. In den Suchtberatungsstellen war der Anteil am mobilen Arbeiten besonders hoch. Bei nahezu allen Beratungsstellen, die Rückmeldung gaben, lag der Anteil der Mitarbeitenden im mobilen Arbeiten bei über 50 Prozent, vielfach sogar bei über 75 Prozent. Es wurde auf Telefon- oder Videoberatung umgestellt. Teilweise wurden mit den Klient*innen auch Beratungs-Spaziergänge an der frischen Luft gemacht.
Die Folgen, die sich aus dem mobilen Arbeiten ergaben und ergeben, sind vielfältig: Mitarbeiter*innen mussten teilweise ihre privaten Telefone und Laptops nutzen, sie wurden zu Hause durch andere Familienmitglieder beim Arbeiten gestört, oder es war ihnen unangenehm, dass Klient*innen per Video oder Telefon etwas über ihr privates Umfeld mitbekamen. Einige wenige Mitarbeiter*innen aus Beratungsstellen gaben an, dass sie Probleme mit dem Zugriff auf notwendige Dateien hatten. In den meisten Fällen aber war das nicht virulent.
Folgende Chancen und Wünsche an die Zukunft wurden von den Beratungsstellen formuliert: Einige Mitarbeitende beschrieben, zu Hause sei ein konzentrierteres Arbeiten möglich. Mehrere Mitarbeitende freuten sich über den Wegfall von Fahrzeiten und auch über ein vermindertes Stresslevel durch die Möglichkeit einer freieren Zeiteinteilung. Gerade für Erstberatungen und Einmal-Beratungen wurden Video- und Telefonberatungen als gute Möglichkeiten wahrgenommen. Sie können für machen Klient*innen eine sinnvolle Ergänzung zum klassischen Setting in der Beratungsstelle darstellen.
Insgesamt herrscht eine große Vielfalt bei den für Videoberatung oder auch Austausch per Messenger eingesetzten Programmen. Zoom, Jitsi, Skype, GoToMeeting, aber auch unbekanntere Programme wie Senfcall oder BigBlueButton, kamen und kommen zum Einsatz. Dass diese auch Kosten verursachen können, wurde in kaum einem Fall als Problem angegeben, dafür aber erfolgte häufig die Rückmeldung, dass man datenschutzrechtliche Bedenken oder Verbindungsprobleme habe oder dass Klient*innen mit den Tools nicht zurechtkamen. In einigen Fällen wurde auch RedMedical zur Beratung genutzt. Hier gab es keine datenschutzrechtlichen Bedenken, dafür aber erhöhte Kosten und teilweise ebenfalls Probleme bei der Bedienung durch Klient*innen.
Klient*innen
Einige wenige Beratungsstellen gaben an, dass sie gar keine Veränderungen in der Klient*innen-Struktur wahrgenommen haben. Die meisten Beratungsstellen konnten jedoch Veränderungen verzeichnen. Sie erklärten, mehr junge und internetaffine Personen sowie mehr Angehörige und mehr mobilitätseingeschränkte Menschen erreicht zu haben als vor der Pandemie. Die Klient*innen konnten Termine flexibler in ihren Alltag einbauen und dafür z. B. auch einmal die Mittagspause nutzen, weil Fahrwege entfielen. Dem steht leider gegenüber, dass Ältere und schon länger Betreute häufig ihren „digitalen Weg“ in die Beratung nicht mehr fanden und Kontakte abbrachen, wenn man sich nicht persönlich sehen konnte.
Bezüglich des Konsumverhaltens konnten gerade bei jenen, die schon länger in Beratung waren, häufig Rückfälle beobachtet werden. Aus der Beratung von Menschen mit Essstörungen wurde berichtet, dass Ängste und Stress stark zugenommen haben, die Betroffenen eine Beratung per Video häufig aber nur ungern annahmen, um sich nicht selbst sehen zu müssen.
Positive Aspekte von Video- und Telefonberatung wurden besonders im Zusammenhang mit Menschen genannt, die neu ihren Weg in die Beratung fanden: Mehrere Beratungsstellen berichteten, dass ihrem Eindruck nach die Termine per Video oder Telefon deutlich verbindlicher realisiert wurden als reale Beratungstermine. Absagen bzw. Nichterscheinen kamen seltener vor. Außerdem wurde die Pandemie von einigen Klient*innen offenbar im positiven Sinne als Umbruchsituation wahrgenommen. Da sich dadurch im Leben ohnehin Veränderungen ergaben, wurde die Pandemie als guter Zeitpunkt angesehen, um das Suchtproblem anzugehen und eine Abstinenz vom Suchtmittel dauerhaft ernsthaft umzusetzen. In der Motivation zur Abstinenz half einigen Klient*innen beispielsweise auch, dass Spielhallen und Kneipen geschlossen waren.
Wünsche für die Zukunft
Betrachtet man die Wünsche für die Zukunft, die von den Beratungsstellen formuliert wurden, so besteht durchgehend der Wunsch, Telefon- und Videoberatung ergänzend zur persönlichen Beratung beizubehalten, ebenso die Möglichkeiten des mobilen Arbeitens. Viele gaben an, sich künftig ein bis zwei Tage mobiles Arbeiten pro Woche sehr gut vorstellen zu können. Bei den Klient*innen müsse man genau analysieren, für wen sich diese Beratungsform gut eigne und für wen nicht, um am Ende alle Ratsuchenden auf die beste Weise zu erreichen.
Dienst-Handy und Dienst-Laptop stehen weit oben auf der Wunsch-Skala, um nicht mehr die privaten Geräte nutzen zu müssen. Gerade was Teamsitzungen und Fortbildungen angeht, können sich viele Mitarbeiter*innen vorstellen, diese regelhaft online durchzuführen. Bei Teamsitzungen wurde die Stimmung teilweise als konzentrierter und effizienter wahrgenommen. Voraussetzung dafür ist allerdings, wie häufig betont wurde, dass es in Bezug auf den Datenschutz eine größere Sicherheit geben solle. Außerdem wünschen die Mitarbeiter*innen der Beratungsstellen sich insgesamt stabileres Internet und Programme, die für Mitarbeiter*innen wie Klient*innen einfach in der Bedienung sind und nicht auf dem Rechner fest installiert werden müssen.
Niedrigschwellige Hilfe
Arbeitsprozesse
Niedrigschwellige Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe bieten den Klient*innen häufig auch Möglichkeiten zum Aufenthalt sowie Konsumräume. Die Klient*innen sind nicht immer motiviert, den Ausstieg aus ihrer Sucht direkt anzugehen, aber für niedrigschwellige Ansprache und Unterstützung im Alltag sind sie offen. Vier niedrigschwellige Einrichtungen aus Hamburg füllten den Fragebogen der Landesstelle aus, so dass die hier beschriebenen Schlaglichter nur aus relativ wenigen Eindrücken gewonnen werden konnten.
Insgesamt war der Anteil von Mitarbeiter*innen im mobilen Arbeiten in den Einrichtungen der niedrigschwelligen Suchthilfe recht gering und lag in den meisten Fällen bei unter 20 Prozent, in einem Fall bei 20 bis 50 Prozent. Dieses Ergebnis überrascht nicht, da niedrigschwellige Arbeit sehr stark mit persönlichem Kontakt verbunden ist.
Die Möglichkeit zur Kommunikation per Video oder Telefon mit den Klient*innen war hier recht gering. Dafür aber wurden Videokommunikations-Programme und auch Messenger-Dienste zur Kommunikation innerhalb des Teams verstärkt genutzt und auch positiv aufgenommen. Datenschutzrechtliche Bedenken oder die Tatsache, dass das private Umfeld im Video zu sehen sein könnte, wurden nicht unbedingt als Probleme angesehen und benannt.
Beratungsgespräche wurden gerade in der niedrigschwelligen Suchthilfe häufiger bei Spaziergängen durchgeführt, statt in der Einrichtung, um dem Setting geschlossener Räume zu entgehen und Menschen trotzdem persönlich zu begegnen.
Klient*innen
Dass die Einrichtungen vor Ort Klient*innen zeitweise gar nicht oder nur mit großen Abständen einlassen konnten, führte vielerorts zu Problemen. Insgesamt nahmen die Einrichtungen in der Klient*innen-Struktur keine großen Veränderungen wahr, merkten aber sehr wohl, dass Kontakte zu langjährigen Klient*innen leider abbrachen. Auch verstärkte sich offenbar bei zahlreichen Klient*innen der Konsum in der Pandemie. Der persönliche Kontakt in niedrigschwelligen Einrichtungen ist durch Online-Angebote nicht ersetzbar.
Insgesamt berichteten die niedrigschwelligen Einrichtungen, dass die konkreten Hilfestellungen – z. B. bei Behördengängen, bei dem Bemühen um Arbeits- oder Praktikumsplätze oder bei der Wohnungssuche – in der Pandemie noch schwieriger geworden waren.
Wünsche für die Zukunft
Konkrete Wünsche an die Zukunft bzw. an eine Übernahme von Arbeitsweisen aus Pandemiezeiten, wurden von Seiten niedrigschwelliger Einrichtungen in den ausgewerteten Rückmeldebögen nicht geäußert.
Eingliederungshilfe
Arbeitsprozesse
Auch in den Einrichtungen der Eingliederungshilfe ergaben sich mit der Pandemie deutliche Veränderungen. Von sechs Eirichtungen konnten Rückmeldungen ausgewertet werden. Der Anteil von Mitarbeiter*innen im mobilen Arbeiten lag in der Eingliederungshilfe bei unter 50 Prozent, in den meisten Einrichtungen sogar bei unter 20 Prozent. Immer wieder wurde betont, dass die persönliche Betreuung und Versorgung der Klient*innen nicht aus der Ferne möglich sei, dafür aber wurden einzelne Gespräche oder auch Teamsitzungen vermehrt in den virtuellen Raum verlegt.
Fast alle Einrichtungen hatten hingegen damit zu kämpfen, dass Klient*innen nur noch in Einzelzimmern untergebracht werden konnten und zudem Zimmer für Quarantäne-Zwecke freigehalten werden mussten. Dadurch konnten fast überall nur weniger Klient*innen aufgenommen und betreut werden als vor der Pandemie. Zudem entstand ein durchgängig stark erhöhter Bürokratieaufwand durch regelhafte Testungen und die konsequente Einhaltung und Überwachung sich immer wieder verändernder Hygienevorschriften.
Für die Klient*innen bestanden in fast allen Einrichtungen der Eingliederungshilfe wiederholt Heimreise- wie auch Besuchsverbote. Gruppenangebote mussten in kleineren Gruppen durchgeführt werden, somit wurden mehr Gruppensitzungen insgesamt abgehalten, was den Personalaufwand erhöhte. Auch Raumplanungen wurden dadurch in den Einrichtungen deutlich komplizierter.
Klient*innen
Veränderungen in der Klient*innen-Struktur wurden in den Einrichtungen der Eingliederungshilfe insgesamt nicht wahrgenommen.
Die Einrichtungen berichteten davon, dass der Stress unter den Klient*innen spürbar zugenommen habe, insbesondere durch die Besuchs- und Heimreiseverbote, aber auch durch allgemeine mit der Pandemie verbundene Zukunftsängste. Die Aufenthaltsdauern haben sich dadurch teilweise verlängert, und die Sicherstellung nahtloser Behandlungsübergänge war noch wichtiger geworden.
Wünsche für die Zukunft
Besondere Wünsche, was aus der Pandemie an positiven Entwicklungen mit in die Zukunft genommen werden sollte und was es dafür an Voraussetzungen bräuchte, wurden von den Einrichtungen der Eingliederungshilfe nicht formuliert. Nur vereinzelt wurde angemerkt, dass die Möglichkeit von Teamsitzungen per Video auch in der Zukunft ein gutes Modell sein könnte.
Ambulante Rehabilitation
Arbeitsprozesse
Fünf Einrichtungen, die Ambulante Reha Sucht (ARS) durchführen, haben den Fragebogen ausgefüllt. Bei den Angeboten der ARS war und ist die Möglichkeit der Mitarbeiter*innen, im mobilen Arbeiten tätig zu sein, deutlich begrenzt. Der Anteil der Mitarbeiter*innen im mobilen Arbeiten lag nach Angaben der sich beteiligenden Einrichtungen zwischen 20 und 50 Prozent im Mittel.
Vor allem in Bezug auf die Gruppenangebote gab es in der ARS einen deutlichen Mehraufwand, da zahlreiche Gruppen geteilt oder gedrittelt werden mussten, um Abstände vernünftig einhalten zu können. Für viele Angebote mussten größere Räume gesucht oder generell bei den Räumen umorganisiert werden. Sowohl die Umstrukturierung der Gruppensitzungen als auch der erhöhte Organisationsaufwand führten dazu, dass nur weniger Klient*innen bei allerdings erhöhtem Personaleinsatz betreut werden konnten. Auch einige Angebote zur gemeinsamen Freizeitgestaltung im Rahmen der ARS mussten stark umstrukturiert werden oder zeitweise ganz entfallen.
Vereinzelt kamen für Klient*innen-Gespräche, insbesondere aber auch für die Kommunikation untereinander, auch in der ARS Videokonferenzsysteme zum Einsatz. Teilweise wurde das als sehr positiv wahrgenommen, teilweise aber auch als Nachteil. „Wir vermissten im Team insgesamt den Austausch jenseits von Fakten“, hieß es dazu in einer Rückmeldung.
Klient*innen
Insgesamt nahmen die Einrichtungen keine Veränderungen in der Klient*innen-Struktur in Bezug auf Alter, Suchtmittel, Geschlecht oder Familienstand wahr.
Die Motivation zur Behandlung bei den Klient*innen wurde sehr unterschiedlich wahrgenommen. Wie auch schon im Beratungssetting war es in einigen Fällen schwieriger, die Klient*innen zu motivieren und sie dauerhaft „bei der Stange zu halten“. Teilweise wurde aber auch berichtet, Verlässlichkeit, Aufmerksamkeit in den Gesprächen und Motivation zur Änderung der Lebenssituation seien höher als vorher.
Wünsche für die Zukunft
Die Einrichtungen der ARS äußerten keine Wünsche, was sie aus der Pandemie gerne positiv mit in Zukunft nehmen würden. Vereinzelt wurde auch hier positiv bewertet, Teamsitzungen künftig eher digital durchzuführen, aber einige Mitarbeitende sind dieser Option gegenüber durchaus skeptisch eingestellt.
Stationäre Rehabilitation
Arbeitsprozesse
Im Bundesland Hamburg gibt es nur sehr wenig Angebote der stationären Rehabilitation für Abhängigkeitskranke, entsprechend erreichten die HLS auch nur von zwei Mitgliedern, die das Angebot der stationären Rehabilitation Abhängigkeitskranker vorhalten, eine Rückmeldung auf ihre Fragen.
Die Einrichtungen gaben wenig überraschend an, dass im stationären Setting so gut wie keine Mitarbeiter*innen während der Pandemie im mobilen Arbeiten tätig waren, alle Mitarbeitenden mussten für die Behandlung und Betreuung der Klient*innen vor Ort sein. Es wurden aber vereinzelt Online-Einzeltherapiesitzungen durchgeführt, wenn z. B. Therapeuten*innen in Quarantäne waren. Dies lief dann in der Regel problemlos, und die Verantwortlichen waren selbst überrascht, wie gut derartige Therapiegespräche auch mit Videokonferenzsystemen geführt werden können.
Insgesamt habe man die Krise daher auch als Chance wahrgenommen, aus eingefahrenen Strukturen herauszukommen und Neues auszuprobieren, gleichzeitig sei dies aber gerade für die Leitung auch mit einem enormen Stress und erhöhter Mehrarbeit einhergegangen aufgrund der Notwendigkeit, permanent flexible organisatorische Lösungen zu finden. Zudem war unter Mitarbeiter*innen wie Klient*innen eine anhaltende Anspannung zu spüren. Hauptgründe dafür waren die Angst, sich selbst oder Angehörige zu infizieren, oder die Sorge, dass die Klient*innen sich nicht an die Regularien halten und Ansteckungsrisiken verheimlichen.
Es mussten Gruppen geteilt und verkleinert werden, dadurch hatte das Personal vielfach mehr zu tun, obwohl nur weniger Klient*innen als vor der Pandemie aufgenommen werden konnten, denn sämtliche Klient*innen waren in Einzelzimmern untergebracht, und es wurden Zimmer für Quarantäne frei gehalten.
Klient*innen
Aus den Einrichtungen wurde berichtet, dass in der Krise keine veränderten Klient*innen-Strukturen wahrgenommen wurden, aber ehemalige Rehabilitand*innen nahmen verstärkt Kontakt zur Reha-Klinik auf, um schlichtweg Anbindung oder Beratung zu erhalten, weil andere Angebote der Beratung oder auch der Selbsthilfe wegfielen. Das Therapiemodul „Heimfahrten als Belastungserprobung“ fiel für Rehabilitand*innen in der Krise komplett aus.
Wünsche für die Zukunft
Für die Zukunft können sich die Mitarbeiter*innen in der stationären Suchtreha Online-Angebote für einzelne Gespräche oder für Arbeitsgruppentreffen untereinander sowie zur Vernetzung mit Beratungsstellen oder Fachverbänden gut vorstellen. Dafür müsse die technische Infrastruktur und Ausstattung an vielen Stellen aber noch besser werden.
Suchtselbsthilfe
Von drei Verbänden der Suchtselbsthilfe sowie zwei Einrichtungen, in deren Räumen auch Selbsthilfegruppen tagen, sind Rückmeldungen zu diesem Bereich eingegangen. Zudem hat der Kreuzbund schon Ende des Jahres 2020 unter seinen Gruppen deutschlandweit eine Umfrage zur Selbsthilfe in Corona-Zeiten durchgeführt und die Ergebnisse in seiner Zeitschrift „Weggefährte“ im April 2021 veröffentlicht.
Suchtselbsthilfe ist ein Bereich, der von den Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln, die während der Pandemie erlassen und immer wieder geändert wurden, sehr stark betroffen war.
Teilnehmer*innen
Wie alle Verbände einhellig in der HLS-Befragung rückgemeldet haben, betrafen die während der Pandemie wahrgenommenen Probleme von Einsamkeit, Job-Unsicherheiten, Kurzarbeit und eingeschränkten realen Sozialkontakten gerade die schon langjährig in der Suchtselbsthilfe aktiven und vielfach seit mehreren Jahren abstinent lebenden Gruppenmitglieder stark. Es wurde von allen Verbänden eine höhere Zahl von Rückfällen wahrgenommen.
Gleichzeitig zeigte sich die Suchtselbsthilfe aber auch sehr flexibel und gewillt, ihre Angebote bestmöglich aufrechtzuerhalten. Viele Gruppen schwenkten auf Online-Treffen um oder tagten teilweise real und teilweise online. Gerade in den Sommermonaten 2020 waren reale Treffen auf Grund der niedrigen Inzidenzen gut möglich. Ein Verband meldete zurück, dass es für viele Aktive in der Suchtselbsthilfe ein sehr wichtiges Signal gewesen sei, als die Hamburger Gesundheitssenatorin Melanie Leonhard in einer Pressekonferenz mit Verkündigung der ersten neuen Einschränkungen im Oktober 2020 explizit betont habe, dass die Selbsthilfe wichtig sei und sich weiterhin treffen dürfe. Das wurde als hohe Wertschätzung wahrgenommen.
Trotz allem war und ist die Erreichbarkeit von Suchtselbsthilfe-Aktiven in der Pandemie nicht einfach. Die Verbände berichteten, dass sie durch die Online-Angebote teilweise jüngere und internetaffine Menschen sowie Menschen mit Mobilitätseinschränkung besser erreicht hätten als vorher. Gleichzeitig gingen aber auch zahlreiche Gruppenmitglieder, die schon langjährig aktiv waren, verloren, und neue Interessierte konnten nicht so gut und zuverlässig abgeholt und betreut werden.
Ein Verband beschrieb sehr eindrücklich, dass gerade die Werte und Erfahrungen, die für Suchtselbsthilfe-Aktive wichtig sind, um stabil abstinent zu leben, durch die Pandemie nicht mehr erlebt werden konnten. Denn die Zeit der Pandemie war für die Selbsthilfe gekennzeichnet durch:
- fehlende Verbindlichkeit und häufige Umplanung von Treffen (real wie virtuell)
- Vermissen des körpersprachlichen Erlebens
- Vermissen des direkten Blickkontaktes
- Angst davor, durch digitale Treffen mit Bildübertragung das private Umfeld zu präsentieren
Der Wunsch nach realen Treffen und höheren Verbindlichkeiten ist demnach bei vielen Aktiven noch mal größer geworden.
Arbeitsprozesse
Bei der Technik für Online-Angebote herrschte gerade in der Suchtselbsthilfe eine große Experimentierfreude. Vielfach wurde Zoom genutzt, dies ging aber mit Datenschutzbedenken und immer wieder auch technischen Problemen einher. Außerdem hatten einige Gruppenmitglieder offenbar große Vorbehalte gegen eine Nutzung von Videokonferenz-Tools, und es gab auch immer wieder Bedienungsprobleme, was die Dynamik und die Gespräche in den Gruppen störte.
Bei real während der Pandemie stattfindenden Treffen bemühten sich die Teilnehmer*innen, so berichteten die Suchtselbsthilfe-Verbände, mit großer Gewissenhaftigkeit, die Auflagen in Bezug auf Hygiene und Abstände zu erfüllen. Was die Angabe von Kontaktdaten zur möglichen Kontaktnachverfolgung im Infektionsfall angeht, so haben die Gruppen verschiedene Wege gefunden, damit umzugehen. In der Suchtselbsthilfe ist es für viele Aktive essentiell, dass sie ein gewisses Maß an Anonymität wahren können. Um dem angemessen zu begegnen, haben die Gruppenleitungen z. B. Kontaktangaben in verschlossenen Urnen eingesammelt und zugesagt, diese nur im Infektionsfall zu öffnen. Oder es wurde den Anwesenden erlaubt, Alias-Namen auf den Kontaktzetteln anzugeben, solange entweder E-Mail-Adresse oder Telefonnummer korrekt war. Trotz all dieser Lösungen ist nicht auszuschließen, dass Aktive abgeschreckt waren und den Sitzungen fernblieben auf Grund der Notwendigkeit, Kontaktangaben zu machen.
Sieht man sich die Ergebnisse der Kreuzbund-Befragung unter den Gruppenleitungen des Verbandes bundesweit an, so decken sich zahlreiche Angaben und Erfahrungen mit den in den HLS-Fragebögen gemachten Aussagen.
Wünsche für die Zukunft
Auch wenn die Aktivitäten in der Suchtselbsthilfe mit Unstetigkeiten und auch Problemen einhergingen, so formulierten einige Verbände in ihren Rückmeldungen an die HLS trotzdem den ausdrücklichen Wunsch, digitale Angebote auch in Zukunft beibehalten zu wollen. Ergänzend zur „klassischen“ Suchtselbsthilfe mit realen regelmäßigen Treffen könnten virtuelle Gruppen eine Bereicherung sein, um vor allem jüngere, technikaffine sowie in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen gut zu erreichen. Gegenüber der klassischen Selbsthilfe haben virtuelle Gruppen den Vorteil, dass man ortsunabhängig teilnehmen kann und Fahrwege wegfallen.
Eine verbesserte technische Ausstattung, mehr Sicherheit in Datenschutzfragen, Support durch Fortbildungsangebote, den Abbau von Ängsten gegenüber digitalen Settings sowie bessere Aufklärung über die Chancen digitaler Angebote wünscht sich die Suchtselbsthilfe.
Qualifizierter Entzug
Arbeitsprozesse
Zum Qualifizierten Entzug ging bei der HLS nur ein Fragebogen ein, dieser kam aus einer größeren Hamburger Klinik. Auf Grund von Kapazitätsverlagerungen im Krankenhausbetrieb sowie verschärfter Hygienevorschriften und anderer veränderter Rahmenbedingungen wurde in jenem Krankenhaus die normalerweise durchgeführte Qualifizierte Entzugsbehandlung seit März 2020 ausgesetzt und nur noch der (körperliche) Entzug angeboten.
Wie zu erwarten, war der Anteil von Mitarbeiter*innen, die Möglichkeiten des mobilen Arbeitens nutzen konnten, extrem gering. Im Krankenhausbetrieb wurden und werden bei der körperlichen Entgiftung und der Betreuung von Klient*innen auf der Station die Mitarbeiter*innen vor Ort benötigt.
Klient*innen
Die Klinik beschrieb, dass sie in der Nachfrage und der Klient*innen-Struktur Veränderungen wahrgenommen hat. Es haben sich vermehrt Menschen an sie gewandt, die darum baten, aufgenommen zu werden, weil sie sich nach geregeltem Tagesablauf, Struktur und persönlichen Kontakten sehnten und dieses Bedürfnis in der ambulanten Betreuung und Beratung während der Pandemie aufgrund der Auflagen und Einschränkungen nicht mehr ausreichend abgedeckt werden konnte.
Auch wandten sich mehr Angehörige mit der Bitte um Hilfe direkt an die Klinik. Dagegen wurden Menschen mit Mehrfachabhängigkeiten oder auch sehr stark sozial isolierte Personen weniger erreicht.
Stützende und beratende Gespräche wurden von den Klient*innen gesucht und gewannen – im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten – an Bedeutung. Gleichzeitig aber wurde es viel schwerer, Menschen in andere Angebote wie z. B. Selbsthilfegruppen zu vermitteln, da diese wie vorne beschrieben nur unregelmäßig tagen konnten. Entgiftung und akutpsychiatrische Behandlungen standen bei der Arbeit in der Klinik im Vordergrund. Über längere Zeiträume bestanden Besuchs- oder Heimreiseverbote.
Wünsche für die Zukunft
Fragt man die Mitarbeiter*innen, was sie von diesen Entwicklungen mit in die Zukunft nehmen möchten, so ist das klare Signal, man wünsche sich gar nichts davon. Die meisten würden gern zum Zustand vor der Pandemie zurückkehren und die Wiederherstellung der fachlichen Standards und die Weiterentwicklung des suchttherapeutischen Angebotes in den Fokus nehmen.
Gleichzeitig besteht der Wunsch, die technische und digitale Ausstattung in der Klinik langfristig zu verbessern, um z. B. Klient*innen die Teilnahme an Selbsthilfegruppen oder Mitarbeiter*innen die Vernetzung mit außerklinischen Beratungs- und Behandlungsangeboten zu erleichtern.
Bereichsübergreifende wichtige Aspekte
Einige Eindrücke und Rückmeldungen zu Arbeitsweisen während der Corona-Pandemie gelten für alle Einrichtungsformen. So beschrieben es mehrere Einrichtungen als sehr positiv, dass das Bewusstsein für Hygienevorschriften insgesamt gewachsen sei und die Einhaltung allgemeingültiger Regeln wie regelmäßiges Händewaschen deutlich besser klappe. Es wird mehrfach der Wunsch geäußert, dass dies auch nach der Pandemie anhält. Einige Akteur*innen vermerkten in diesem Zusammenhang, dass der Krankenstand in der Mitarbeiterschaft während der Pandemie zurückgegangen sei. Dies wird darauf zurückgeführt, dass sich die Mitarbeiter*innen durch das erhöhte Hygienebewusstsein, das ständige Tragen von Masken und das konsequente Abstandhalten in Alltagssituationen auch mit anderen Krankheitserregern als dem Covid-19-Virus weniger ansteckten.
Akteur*innen der Suchtkrankenhilfe, die auch im Bereich Prävention tätig sind, berichteten, dass Zielgruppen, die klassischerweise über Institutionen oder Kooperationspartner*innen aus dem sozialen Bereich erreicht werden, während der Pandemie deutlich schwieriger zugänglich waren. Dies ist darauf zurückzuführen, dass auch diese Einrichtungen vielfach unter veränderten Bedingungen und im stetigen Wandel arbeiten mussten. Besonders schwer erreichbar für Präventionsangebote waren Schülerinnen und Schüler wegen des unregelmäßigen Schulbetriebes, wie eine Mitgliedseinrichtung der HLS rückmeldete. Zwei Träger gaben allerdings explizit an, dass sich während der Pandemie auch neue Kooperationen mit bisher unbekannten Projektpartner*innen ergeben hätten. Dies wird als sehr positiv erachtet.
Vielen Rückmeldungen ist zu entnehmen, dass dauerhaft ein recht hoher Druck empfunden wurde, sich stets flexibel und schnell auf neue Situationen und Vorschriften einzustellen und kreative neue Angebote und Formate zu entwickeln. Dabei kam und kommt es auch oft zu Fehlplanungen und einem insgesamt erhöhten Verwaltungsaufwand, der in das Zeitbudget der Mitarbeiter*innen eingeplant werden müsse. Eine Einrichtung merkte dazu explizit an: „Für Fortbildungen blieb das ganze Jahr über so gut wie gar keine Zeit, obwohl diese eigentlich dringend notwendig gewesen wären.“
In Bezug auf Verwaltungsvorgänge wünschen sich mehrere HLS-Mitglieder Erleichterungen. Original-Unterschriften auf Formularen, wie sie von einigen öffentlichen Stellen und Kostenträgern verlangt werden, sind in der Zeit des mobilen und digitalen Arbeitens häufig ein Problem. Außerdem berichteten mehrere Einrichtungen übereinstimmend, dass es auf Grund der Gesamtlage in der Pandemie noch einmal deutlich schwieriger war, Klient*innen bei der sozialen und beruflichen Re-Integration zu unterstützen.
Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass alle Akteur*innen in der Arbeit mit suchtkranken Menschen sich durchgängig danach sehnen, dass wieder mehr Normalität einkehrt und auch wieder mehr reale Begegnungen stattfinden können. Online-Angebote können allenfalls eine Ergänzung zu den bestehenden Präsenz-Angeboten sein. Trotzdem muss festgehalten werden, dass durch Telefon- und Videoangebote gerade in der Beratung und teilweise in der Suchtselbsthilfe auch neue Zielgruppen erreicht wurden, so dass diese Angebote zumindest ergänzend beibehalten werden sollen. Speziell für Teamsitzungen können sich viele Mitarbeiter*innen digitale Lösungen auch in der Zukunft gut vorstellen.
Die Corona-Pandemie hat die Digitalisierung der Suchthilfe massiv vorangetrieben – einige dieser Erfahrungen müssen nun validiert und bestenfalls in die Beratungs- und Behandlungskonzepte zur Verbesserung der Versorgung der Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen und ihrer Angehörigen integriert werden. Die Pandemie hat noch einmal gezeigt: Entscheidend für erfolgreiches Arbeiten mit den Klient*innen sowie mit den Kolleg*innen ist der persönliche, unmittelbare Austausch. Dies ist eine der wesentlichsten Ableitungen. Denn die immensen gesamtgesellschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie werden wir in Zukunft auch und vor allem in der Suchthilfe zu bewältigen haben. Dazu brauchen wir ein verlässliches Netzwerk und verlässliche Kooperationspartner*innen.
Kontakt und Angaben zur Autorin:
Linda Heitmann
Geschäftsführerin
Hamburgische Landesstelle für Suchtfragen e.V.
Burchardstraße 19
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