Zwei Abschlussarbeiten zum aktuellen Stand
In unserem Schwerpunktthema im Mai 2015 stellten wir die Frage „Wofür brauchen wir BORA?“. Zu dieser Zeit waren die BORA-Empfehlungen gerade frisch verabschiedet, und die Einrichtungen gingen daran, Maßnahmen umzusetzen und ihre Konzepte zu überarbeiten. Dies geschah in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß und mit unterschiedlichem Nachdruck durch die Leistungsträger. Dreieinhalb Jahre später werfen wir wieder einen Blick auf Maßnahmen zum Erwerbsbezug in der Suchtreha und fragen „Was hat sich getan?“. Dazu werden zwei Abschlussarbeiten vorgestellt, von denen die eine einen bundesweiten Überblick zur organisatorischen und konzeptionellen Entwicklung gibt und die andere sich auf die konkrete Umsetzung in einer Einrichtung konzentriert.
Die Umsetzung der BORA-Empfehlungen der Deutschen Rentenversicherung im Bereich Suchtrehabilitation. Eine qualitative Analyse
Bachelorarbeit von Natascha Otten
Am 01.03.2015 sind die „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation“ in Kraft getreten. Diese Empfehlungen wurden von der Arbeitsgruppe BORA (Beruflich orientierte Rehabilitation Abhängigkeitskranker) erarbeitet, deren Mitglieder Expertinnen und Experten der Deutschen Rentenversicherung und der Suchtverbände waren. Ziel dieser Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker (BORA-Empfehlungen) war es, neue Impulse für eine noch individuellere und an den Teilhabebedarfen der einzelnen Rehabilitandin bzw. des einzelnen Rehabilitanden orientierte Suchtrehabilitation zu geben.
Im Rahmen der hier vorgestellten Bachelor-Abschlussarbeit setzt sich die Autorin mit dem Stand der Umsetzung dieser Empfehlungen auseinander. Ziel der Arbeit war unter anderem, aufzuzeigen, welche Probleme und Schwierigkeiten bei der Umsetzung auftreten können und welchen Mehrwert diese Empfehlungen für den Bereich der Suchtrehabilitation haben.
Ausgangslage
In einem vorausgehenden Forschungsprojekt von Studierenden der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg wurde eine Umfrage zum Stand der Umsetzung der BORA-Empfehlungen durchgeführt. Eine weitere ähnliche Umfrage erfolgte durch den Fachverband Sucht (FVS). Die in beiden Umfragen erzielten Ergebnisse ließen vermuten, dass sich die Umsetzung der BORA-Empfehlungen noch in einem Prozess befindet, da die meisten Kliniken zwar bereits ein BORA-Konzept entwickelt, jedoch noch keine Rückmeldung seitens der Federführer erhalten hatten. Die Mehrheit der Einrichtungen berichtete in den Umfragen von positiven Impulsen und Entwicklungen, lediglich vereinzelte Kliniken empfanden die Empfehlungen als sinnlos.
Gegenstand der anschließenden Bachelorarbeit war es, die vorliegenden Umfrageergebnisse qualitativ zu evaluieren. Dazu führte die Autorin Experteninterviews durch. Als Interviewpartner wurden Führungskräfte aus Fachkliniken in unterschiedlichen Regionen Deutschlands ausgewählt. Zusätzlich wurden ein Einrichtungsleiter einer Adaptionseinrichtung und zwei Mitverfasser der BORA-Empfehlungen (ein Experte der Deutschen Rentenversicherung und ein Experte aus den Reihen der Suchtverbände) befragt, um einen möglichst guten Überblick zu gewährleisten.
Fazit der Interviews
Als eines der aktuellen Hauptprobleme der Umsetzung wurden fehlende finanzielle Ressourcen benannt. Die Ausgangssituationen der einzelnen Kliniken stellten sich als sehr unterschiedlich heraus, sodass auch der Bedarf an finanzieller Unterstützung verschieden groß ist. Für die Umsetzung der BORA-Empfehlungen ist es notwendig, entsprechende Instrumente für Screening- und Assessmentverfahren einzuführen, das vorhandene Personal weiterzubilden und ggf. auch neue berufsbezogene Therapieangebote zu etablieren – alles Maßnahmen, die Geld kosten. Dadurch wird deutlich, dass die fehlende finanzielle Unterstützung durch die Leistungsträger den Hauptgrund für die uneinheitliche Umsetzung darstellt.
Auffällig war, dass zum Zeitpunkt der Befragung die Umsetzung und Finanzierung von zusätzlichen Maßnahmen im Norden Deutschlands bereits weit fortgeschritten war. Es zeichnete sich eine Art Nord-Süd-Gefälle ab.
Auch wenn die BORA-Empfehlungen eher als eine Art Ergänzung der bisherigen Strukturen und Prozesse zu verstehen sind, sehen die befragten Experten in ihnen einen Mehrwert, insbesondere für die Evaluation der bisherigen Rehabilitationsprozesse. Durch BORA werden neue Impulse gegeben, um den Reha-Prozess noch individueller zu gestalten und somit bessere Chancen für eine berufliche Wiedereingliederung zu schaffen. Dieses Ziel sollte gerade von den Leistungsträgern auch finanziell unterstützt werden.
Ausblick
Wie der Name schon sagt, handelt es sich aktuell lediglich um Empfehlungen ohne verpflichtende Umsetzung für die Einrichtungen. Allein deswegen kann eine bundesweit einheitliche Umsetzung nicht erwartet werden. Die Ergebnisse der qualitativen Erhebung haben gezeigt, dass BORA eine wichtige Grundlage für die Weiterentwicklung der beruflichen Orientierung in der Suchtrehabilitation darstellt. Es bleibt allerdings abzuwarten, wie sich der weitere konzeptionelle Umsetzungsprozess gestalten wird. Sinnvoll erscheint, in drei bis vier Jahren eine erneute Umfrage durchzuführen, weil dann davon auszugehen ist, dass der Umsetzungsprozess weitestgehend abgeschlossen ist und eine umfassende Beurteilung vorgenommen werden kann. Am Ende sollte jedoch die Frage diskutiert werden, ob es nicht sinnvoller wäre, BORA als ein verbindliches Rahmenkonzept einzuführen und zu finanzieren.
Die Bachelorarbeit steht hier zum Download bereit.
Kontakt:
Natascha Otten
N.Otten@bghw.de
Angaben zur Autorin:
Natascha Otten, Absolventin der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg im Bereich Sozialversicherung mit dem Schwerpunkt Unfallversicherung, ist Mitarbeiterin der Berufsgenossenschaft Handel- und Warenlogistik in Essen.
Evaluation der Implementierung eines neuen beruflich orientierten Rehabilitationskonzeptes für Abhängigkeitskranke (BORA) – Eine empirische Pilotstudie in der Fachklinik Hirtenstein
Bachelorarbeit von Melanie Zirnsak
Im Januar 2017 wurden in der Fachklinik Hirtenstein fünf Zielgruppen implementiert, welche sich an den „Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker“ (BORA-Empfehlungen; Beckmann u. a. 2014, S. 1) orientieren. Die Implementierung dieser BORA-Zielgruppen stellte den Evaluationsgegenstand einer Pilotstudie dar, welche im Rahmen einer Bachelorarbeit durchgeführt wurde. Da die BORA-Empfehlungen erst 2014 herausgegeben wurden, besitzen sie eine hohe Aktualität und Relevanz für Praxis und Forschung.
Bei den Empfehlungen der Arbeitsgruppe BORA steht die Förderung der beruflichen Integration im Fokus. Das Augenmerk liegt hierbei nicht auf einer konzeptionellen Neuentwicklung, sondern auf der Weiterentwicklung von bereits bestehenden Therapiekonzepten (vgl. Koch 2015, o.S.). Die BORA-Empfehlungen „beziehen sich auf ein Raster mit fünf Gruppen“ (ebd., o.S.) von Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, welche sehr verschiedene therapiebezogene Bedürfnisse haben können. Abbildung 1 stellt die Aufgliederung in diese fünf Zielgruppen dar.
Ziel
Die Arbeit gliedert sich in zwei Bereiche: die theoretische Hinführung zum Thema sowie den Methodenteil. Im theoretischen Teil werden Grundlagen der Suchttherapie, das dynamische Zusammenspiel der einzelnen Therapieziele sowie die Einfluss- und Wirkfaktoren in der Suchttherapie dargestellt. Im Anschluss wird auf die Arbeits- und Berufsorientierung in der Suchttherapie eingegangen. Neben der geschichtlichen Entwicklung geht es hier vor allem um die Aufbereitung und Erläuterung der BORA-Empfehlungen.
Ziel ist es, die Auswirkungen der Implementierung der fünf Zielgruppen in der Praxis zu erheben und zu bewerten. Die genaue Fragestellung lautet: Wie wirkt sich aus Sicht der therapeutischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Implementierung erwerbsbezugshomogener Bezugsgruppen (ebhB) nach den BORA-Empfehlungen auf die soziale Situation, die Arbeitsweise in den Gruppen und die Gesamtsituation in der Klinik aus?
Methode
Die Fragestellung untergliedert sich in fünf Forschungsfragen. So soll evaluiert werden, wie sich die Implementierung auf
- die Arbeit in den Bezugsgruppen,
- die soziale Situation in den Gruppen,
- die soziale Situation zwischen den Gruppen sowie
- auf die Gesamtsituation in der Klinik und
- die berufliche Tätigkeit der Therapeutinnen und Therapeuten
auswirkt. Aus diesen Forschungsfragen wurden im Rahmen der Operationalisierung Dimensionen erarbeitet, welche wiederrum Grundlage für die Entwicklung von Indikatoren waren (vgl. Schnell u. a. 2013, S. 118). Die möglichen Auswirkungsbereiche sowie deren Aufgliederung in Dimensionen sind in Abbildung 2 dargestellt.
Für die Evaluation wurde eine quantitative Erhebung mittels zweier Fragebogen durchgeführt. Ein standardisierter Online-Fragebogen wurde durch einen weitgehend standardisierten papiergebundenen Fragebogen ergänzt. Es wurden alle elf therapeutisch tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachklinik Hirtenstein befragt. Hierdurch handelt es sich um eine Vollerhebung. Da mittels der Befragung die Veränderungen durch die Implementierung erhoben wurden, die Erhebung selbst jedoch erst nach der Implementierung stattfand, handelt es sich um eine quasi-indirekte Veränderungsmessung (vgl. Gollwitzer/Jäger 2014, S. 95). Das Erhebungsinstrument wurde einem zweistufigen Pretest unterzogen. Der Erhebungszeitraum betrug 17 Tage.
Nur Ergebnisse von Personen, die schon mindestens drei Monate in der Fachklinik Hirtenstein beschäftigt sind, gingen in die Bewertung ein, da nur diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowohl die Vorher- als auch die Nachher-Situationen kennengelernt haben und somit die Auswirkungen in der Fachklinik einschätzen und bewerten können.
Ergebnisse
Die Rücklaufquote lag sowohl bei der Online- als auch bei der papiergebundenen Umfrage bei 100 Prozent.
- Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gaben an, dass die Arbeit in den erwerbsbezugshomogenen Bezugsgruppen die Konzentration, die Zielgerichtetheit und die Beteiligung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden erhöht hat. Zudem hat sich die Anschlussfähigkeit erhöht, und es hat eine Veränderung der Themenschwerpunkte stattgefunden.
- In Bezug auf die soziale Situation innerhalb der Bezugsgruppen wurden ebenfalls Veränderungen wahrgenommen. So haben sich hier die Gruppenkohäsion und die wechselseitige Unterstützung erhöht. Auch trug die Implementierung zur Verringerung von Konflikten und zur Erhöhung der Interaktion innerhalb der einzelnen Gruppen bei. Die Befragten äußerten zudem, dass sie eine Erhöhung bei der Übereinstimmung von Themen wahrnehmen. Lediglich bei der Identifizierung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden mit der Gruppe konnten die Befragten keine Veränderung feststellen.
- Im Bereich der sozialen Situation zwischen den einzelnen Bezugsgruppen verringerte sich die Abgrenzung zwischen den Gruppen. Im Hinblick auf die wechselseitige Unterstützung sowie die Interaktion zwischen den Gruppen wurde eine Erhöhung wahrgenommen, eine Bildung elitärer Gruppen wurde nicht beobachtet. Das Konfliktniveau wurde als unverändert eingestuft.
- Auf die Gesamtsituation in der Klinik hat sich die Einführung ebenfalls ausgewirkt. So wurde von den Befragten eine Verbesserung der Gesamtatmosphäre festgestellt. Auch werden berufsbezogene Aspekte nun stärker in den Behandlungsprozess eingebunden, und der Stellenwert der erwerbsbezogenen Behandlungsanteile hat sich erhöht. Nach Meinung der Befragten kann nun besser auf arbeitsbezogene Probleme eingegangen werden, und die Erwerbstätigkeit rückt stärker in den Fokus.
- Bei den Auswirkungen auf die berufliche Tätigkeit der Therapeutinnen und Therapeuten kann festgestellt werden, dass sich die erforderliche Aktivität durch therapeutisch Arbeitende sowie der Aufwand bei der Anwendung therapeutischer Techniken unverändert blieben. Bezüglich der Arbeitsinhalte ist eine Veränderung festzustellen und der allgemeine Arbeits- und Dokumentationsaufwand hat sich durch die Einführung der ebhB erhöht.
Die Auswirkungen der Implementierung der ebhB werden durch die Forscherin größtenteils als vorteilhaft bewertet. So werden vier der Ergebnisse als neutral eingestuft, und lediglich die Erhöhung des allgemeinen Arbeitsaufwands und des Dokumentationsaufwands wird als negativ eingestuft. Die Bewertung erfolgte auf Grundlage der theoretischen Fundierung.
Diskussion
Insgesamt werden die wahrgenommenen Veränderungen überwiegend als positiv eingestuft. Insbesondere kann hier herausgestellt werden, dass die Implementierung der ebhB dem Ziel der BORA-Empfehlungen, der Diversität der Bedürfnisse von Rehabilitandinnen und Rehabilitanden besser gerecht werden zu können, zuträglich ist (vgl. Beckmann u. a. 2014, S. 17). So deuten die Ergebnisse darauf hin, dass erwerbsbezugshomogene Bezugsgruppen in einigen Bereichen zu einer bedarfsgerechteren Versorgung von Personen mit Abhängigkeitserkrankungen beitragen können. Werden die Ergebnisse der Evaluation in der Fachklinik Hirtenstein betrachtet, so kann die Implementierung aufgrund vielfältiger Verbesserungen nur befürwortet werden und sollte auch von anderen Rehabilitationseinrichtungen in Betracht gezogen werden.
Aufgrund des eingeschränkten Studiendesigns und der geringen Anzahl partizipierender Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten die Ergebnisse äußerst vorsichtig interpretiert werden. Es ist nicht möglich, die Ergebnisse auf andere Kontexte zu übertragen, sie können also nicht für die Allgemeinheit von Rehabilitationseinrichtungen generalisiert werden (vgl. Gollwitzer/Jäger 2014, S. 42). Um ein flächendeckendes Bild zu erhalten, wäre es wünschenswert, dass auch andere Rehabilitationseinrichtungen Studien bezüglich der Auswirkungen durchführen. Auch wäre es sinnvoll, zusätzlich eine Befragung der Rehabilitandinnen und Rehabilitanden vorzunehmen, um eine abschließende Bewertung der Implementierung zu ermöglichen (vgl. Döring 2014, S. 171).
Die Bachelorarbeit kann bei der Redaktion KONTUREN angefordert werden: redaktion@konturen.de
Kontakt:
Melanie Zirnsak
melaniezirnsak@googlemail.com
Angaben zur Autorin:
Melanie Zirnsak, Absolventin der Hochschule für angewandte Wissenschaften Kempten im Bereich Gesundheitswirtschaft mit dem Schwerpunkt Prävention und Gesundheitsförderung, ist Studentin der Ludwig-Maximilians-Universität in München im Bereich Public Health.
Literatur:
- Beckmann, Ulrike/Eckstein, Gerhard/Hennig, Uwe/Hoffmann, Sabine/Koch, Andreas/Köhler, Joachim u. a. (2014): Empfehlungen zur Stärkung des Erwerbsbezugs in der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker vom 14. November 2014. Deutsche Rentenversicherung Bund. Berlin.
- Döring, Nicola (2014): Evaluationsforschung. In: Nina Baur und Jörg Blasius (Hrsg.): Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung. Wiesbaden: Springer Verlag für Sozialwissenschaften, S. 167–181.
- Gollwitzer, Mario/Jäger, Reinhold S. (2014): Evaluation kompakt, 2., überarbeitete Auflage. Weinheim: Beltz.
- Koch, A., Wofür brauchen wir BORA? – Ausgangssituation und Aufgabenstellung, KONTUREN online, verfügbar unter: http://www.konturen.de/titelthema/wofuer-brauchen-wir-bora, 6. Mai 2015 [letzter Zugriff 29. November 2018]
- Schnell, Rainer/Hill, Paul Bernhard/Esser, Elke (2013): Methoden der empirischen Sozialforschung, 10., überarbeitete Auflage. München: Oldenbourg Verlag.