Prof. Dr. Heino Stöver

Synthetische Opioide auf dem europäischen Drogenmarkt

Prof. Dr. Heino Stöver ©B. Bieber Frankfurt UAS

Dem Europäischen Drogenbericht 2022 zufolge ist Heroin zwar nach wie vor das am häufigsten konsumierte illegale Opioid in Europa und die Droge, die für die meisten drogenbedingten Todesfälle verantwortlich ist. Doch geben synthetische Opioide im Hinblick auf das Drogenproblem in Europa zunehmend Anlass zur Sorge.

Synthetische Opioide werden im Gegensatz zu Opiaten (Morphin) und halbsynthetischen Opioiden (Heroin) vollständig aus Chemikalien synthetisiert. Sie sind mit pharmazeutischen Grundkenntnissen leicht herzustellen. Es handelt sich um Substanzen mit einer schmerzlindernden Wirkung, die der von Heroin und Morphin ähnelt. Die Wirkung ist allerdings viel stärker und potenter als die von Heroin und Morphin, sodass das Risiko einer Überdosierung höher ist.

Synthetische Opioide werden in der Medizin häufig zur Behandlung starker Schmerzen sowie bei der Palliativversorgung eingesetzt. Es gibt zwei separate Lieferketten für synthetische Opioide, die auf den unterschiedlichen Drogenmärkten verkauft werden: Abzweigung und Missbrauch innerhalb der legalen Lieferkette der medizinischen und veterinärmedizinischen Versorgung sowie Synthetisierung der synthetischen Opioide in illegalen Laboren für die illegale Lieferkette.

Fentanylderivate sind laut Europäischem Drogenbericht aufgrund der zentralen Rolle, die sie im nordamerikanischen Opioid-Problem spielen, besonders besorgniserregend. Weiter heißt es, es gebe jedoch auch Anzeichen dafür, dass in einigen Ländern andere synthetische Opioide vorherrschend bei den Drogenproblemen sein könnten. Die derzeitigen Überwachungssysteme dokumentierten die Trends des Konsums von synthetischen Opioiden möglicherweise nicht ausreichend, die Beobachtungskapazitäten müssten verbessert werden (Europäischer Drogenbericht 2022, S. 36).

Weiter heißt es im Europäischen Drogenbericht, dass in Europa in den Jahren 2020 und 2021 keine neuen Fentanylderivate nachgewiesen wurden, in diesem Zeitraum jedoch 15 neue synthetische Opioide entdeckt wurden, die nicht unter die Regelung zur Kontrolle von Fentanylderivaten fallen. Dazu gehörten neun potente Benzimidazol-Opioide. Hergestellt worden seien z. B. gefälschte Arzneimittel wie Oxycodon-Tabletten, die erwiesenermaßen potente Benzimidazol-Opioide enthalten. Auch gefälschte Xanax- und Diazepam-Tabletten mit neuen Benzodiazepinen wurden sichergestellt. Die Konsumierenden könnten, ohne es zu wissen, starken Substanzen ausgesetzt sein, die das Risiko tödlicher oder nicht tödlicher Überdosierungen erhöhen können (Europäischer Drogenbericht 2022, S. 38).

Toolkit für das Gesundheitswesen

Das europäische Forschungsprojekt „Stärkung der Reaktionsbereitschaft von Gesundheitssystemen auf den potenziellen Anstieg der Prävalenz und des Konsums von synthetischen Opioiden“ (Strengthening Synthetic Opioids Health Systems‘ Preparedness to respond to the Potential Increases in Prevalence and Use of Synthetic Opioids) hat ein Toolkit mit Schlüsselstrategien zur Bekämpfung der mit synthetischen Opioiden verbundenen negativen Folgen (SO-PREP) entwickelt. Ziel des Projektes ist, den Verantwortlichen im öffentlichen Gesundheitswesen Angebote, Informationen und praktische Hilfen an die Hand zu geben, um den spezifischen Herausforderungen im Umgang mit synthetischen Opioiden zu begegnen. Das Toolkit enthält Empfehlungen und Anleitungen zu sieben Schlüsselstrategien:

  1. Frühwarnsysteme
  2. Internet-Monitoring
  3. E-Health
  4. Drug-Checking
  5. Drogenkonsumräume
  6. Naloxon
  7. Opioid-Agonisten-Therapie

Frühwarnsysteme

Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) und die Agentur der Europäischen Union für die Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden (Europol) arbeiten seit 1997 mit Unterstützung der EU-Mitgliedstaaten, der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) und der Europäischen Kommission (EK) zusammen, um das Risiko neu aufkommender Drogen auf dem europäischen Drogenmarkt zu überwachen und zu bewerten und ein Frühwarnsystem einzurichten. Ende 2020 überwachte die EBDD rund 830 Neue psychoaktive Substanzen (NPS), von denen 67 zu den synthetischen Opioiden gehörten. Doch in vielen europäischen Ländern gibt es Defizite beim zeitnahen Austausch aktueller Informationen. Daher besteht die größte Herausforderung darin, die Zusammenarbeit sowie die systematische Datenerfassung und den Informationsaustausch zwischen allen relevanten Partnern sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene zu stärken (vgl. Abbildung 1). Für einen schnellen Datenaustausch werden nationale Datenbanken und digitale Plattformen benötigt. Auch die Koordination, Implementierung und Evaluierung von Daten sowie die Berichterstattung darüber sollten für ein funktionierendes Frühwarnsystem zu synthetischen Opioiden optimiert werden.

Abb. 1: Voraussetzungen für ein funktionierendes Frühwarnsystem

Internet-Monitoring

Die Überwachung im Internet beinhaltet das Monitoring von Daten zu

  • Suchverhalten
  • Austausch über Drogen
  • Nutzererfahrungen
  • Drogenmärkte und Drogenangebot

sowohl im Clearnet (öffentliches Internet) als auch im Deep-Web (nur mit Anonymisierungssoftware zugängliches Web, darunter das Darknet). Für den Handel mit synthetischen Opioiden werden Kanäle wie Google Trends, Instagram, Twitter, Facebook, Chatrooms, Kryptomärkte sowie Diskussionsforen im Clearnet und Darknet genutzt. Mithilfe eines Online-Monitorings können Mechanismen innerhalb dieser Plattformen sowie die Entwicklung von Angebot und Nachfrage überwacht werden. Das liefert Erkenntnisse, die durch traditionellere Forschungsmethoden wie z. B. Umfragen nicht gewonnen werden können.

E-Health

Obwohl das Forschungsinteresse zu E-Health-Angeboten bei Substanzstörungen in den vergangenen Jahren stark zugenommen hat, sind digitale Informations- und Kommunikationstechnologien wie Telemedizin und Apps für Drogenkonsumierende noch relativ begrenzt. Realisierbar sind geeignete E-Health-Maßnahmen für die drei Säulen der Drogenpolitik

  • Prävention,
  • Therapie und
  • Schadensminimierung.

Wie wirksam digitale Präventionsmaßnahmen für Konsumierende von synthetischen Opioiden sein können, zeigt das finnische Online-Portal Päihdelinkki (https://paihdelinkki.fi/) mit seinem Informationsangebot zu Drogenkonsum und Drogenentwöhnung. E-Health-Apps können als alternativer Ansatz genutzt werden, um Klient:innen zu einer Therapie zu bewegen und langfristig zu motivieren. In der Telemedizin ist MySafeRx (https://www.c4tbh.org/program-review/mysaferx/) eine Plattform für Mobilgeräte, die Text- und Videokommunikation anbietet und es den Patient:innen ermöglicht, ein Medikament unter Aufsicht einzunehmen.

E-Health-Angebote können nicht nur den Zugang zu bereits existierenden Maßnahmen wie Drug-Checking und Drogenkonsumräumen vereinfachen, sondern auch den Weg für neue, innovative Methoden der Schadensminimierung ebnen. So bietet die app-gestützte Begleitung von Konsumierenden via Telefonbetreiber oder Biofeedback eine Art virtuellen Drogenkonsumraum, in dem sich die Drogengebraucher:innen sicherer fühlen können.

Drug-Checking

Drug-Checking ist ein Angebot an Drogenkonsumierende. Anonym können sie Proben von illegal erworbenen Drogen chemisch analysieren lassen, ohne Strafverfolgung befürchten zu müssen. Sobald die Ergebnisse der Analyse vorliegen, werden die Informationen zu den Inhaltsstoffen und zur Reinheit der Drogenprobe übermittelt. In der Regel gehören Hinweise zur Schadensminimierung, eine Beratung und Kurzinterventionen zu dem Angebot dazu. In Deutschland ist Drug-Checking inzwischen durch Träger der Jugend- und Drogenhilfe in Kooperation mit zur Betäubungsmittelanalyse befähigten Laboren rechtlich abgesichert. Der Deutsche Bundestag hat am 23. Juni 2023 im Betäubungsmittelgesetz (BtMG) die gesetzlichen Grundlagen für das Drug-Checking-Modellvorhaben geschaffen. Das im BtMG verankerte Verbot von Drug-Checking in Drogenkonsumräumen wurde aufgehoben. Berlin macht seit April 2023 erste Erfahrungen in einem Modellprojekt. Hessen und Baden-Württemberg wollen folgen, andere Bundesländer beraten noch.

Da der illegale Drogenmarkt äußerst dynamisch ist, müssen Drug-Checking-Dienste sich kontinuierlich weiterentwickeln, um neuen Bedrohungen wie synthetischen Opioiden gewachsen zu sein. Möglich sind sowohl stationäre Angebote an festen Standorten als auch mobile Angebote, z. B. bei Festivals oder großen Partys. Um mit Drug-Checking gute Ergebnisse zu erzielen, empfehlen sich Handlungsleitfäden. Darin sollten die Zuständigkeiten des Personals, die Qualitätsanforderungen und vor allem die standardmäßigen Schutz- und Sicherheitsvorschriften beim Umgang mit Drogenproben, insbesondere mit hochpotenten Substanzen wie Fentanyl und seinen Analoga, beschrieben werden. Die Laborergebnisse aus dem Drug-Checking können wichtige Informationen für das Frühwarnsystem liefern.

Drogenkonsumräume

Seit 1986 wirken sich Drogenkonsumräume positiv auf Gesundheit und Lebensqualität drogenkonsumierender Menschen aus. Hinsichtlich Prävention und Intervention haben sie eine Schlüsselrolle. Sie bieten eine überwachte, hygienische und sichere Umgebung für den Konsum – auch von synthetischen Opioiden. Mitarbeitende klären über Substanzen und sichere Konsumpraktiken auf. Sie entwickeln Strategien für den Umgang mit Überdosierungen und setzen diese um. So tragen Drogenkonsumräume dazu bei, die Selbstfürsorge und Selbstregulierung von Konsumierenden zu verbessern.

Bei einem starken Anstieg des SO-Konsums müssen die Maßnahmen, Ressourcen und Regelungen in Drogenkonsumräumen angepasst werden. Die Mitarbeitenden müssen sich zusätzliches Fachwissen und Kompetenzen aneignen, um die Sicherheit zu fördern. Fentanyl und andere synthetische Opioide, die zum Strecken von Substanzen verwendet werden, können nicht nur in Opioiden, sondern auch in Stimulanzien vorkommen. Wichtig ist auch, dass Kenntnisse über die Risiken verschiedener Substanzkombinationen vermittelt werden.

Mitarbeitende der Drogenkonsumräume können für das Frühwarnsystem Echtzeit-Daten zur Überwachung des Drogenmarktes liefern. So können Konsumierende, Anbieter von Diensten zur Schadensminimierung, Fachleute des öffentlichen Gesundheitswesens, Wissenschaftler:innen und Strafverfolgungsbehörden zeitnah über hochpotente oder verunreinigte Drogenchargen informiert und davor gewarnt werden.

Naloxon

Der Konsum hochpotenter synthetischer Opioide kann sehr schnell und völlig unvorhergesehen zu einer lebensbedrohlichen Überdosierung, irreversiblen gesundheitlichen Schäden und zum Tode führen. Naloxon ist ein einfacher und sicherer selektiver Opioidrezeptor-Antagonist, der die Wirkung eines Opioids am Rezeptor blockiert und dadurch die Intoxikation aufhebt. Das synthetische Opioid Fentanyl ist schätzungsweise 100-mal stärker als Morphium. Eine Dosis von zwei Milligramm reicht bereits aus, um einen erwachsenen Menschen zu töten. Angesichts dieser Wirkstärke ist eine viel höhere Naloxondosis erforderlich, um eine Überdosis von synthetischen Opioiden zu bekämpfen, als z. B. bei einer Heroinüberdosis.

Naloxon muss breiter verfügbar gemacht werden, da es eine der Schlüsselstrategien zum Schutz vor der wachsenden Bedrohung durch synthetische Opioide ist (siehe hierzu das Positionspapier „Naloxon rettet Leben. Empfehlungen zu Take-Home-Naloxon“). Bisher ist das Medikament in Deutschland rezeptpflichtig. Doch sollte es rezeptfrei erhältlich sein oder zumindest von entsprechend befugten Drogendiensten rezeptfrei abgegeben werden. Es ist wichtig, dass Fachkräfte und Laien wie z. B. Drogenkonsumierende in Schulungen lernen, wie sie im Fall einer Überdosis reagieren sollten und wie das Naloxon zu verabreichen ist. Besonders wichtig sind dabei Peer-to-Peer-Programme.

Die Peer-Schulungen zum Umgang mit Opioidüberdosierungen können Folgendes beinhalten:

  • Ursachen und Risikofaktoren für eine Überdosierung
  • Erkennen von Anzeichen und Symptomen einer Überdosierung (einschließlich der Unterschiede zwischen einer Überdosierung durch Stimulanzien, Heroin, Fentanyl oder andere synthetische Opioide)
  • Begutachtung und Behandlung von Betroffenen
  • adäquate lebenswichtige Unterstützung, einschließlich Wiederbelebung und Beatmung
  • Informationen zur Wirkung von Naloxon
  • Nebenwirkungen und Überwachung nach der Verabreichung von Naloxon
  • mögliches Risiko aggressiven Verhaltens
  • häufige Fehlannahmen zur Überdosisprävention
  • rechtlicher Rahmen zum Umgang mit Naloxon für die Zielgruppen: Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen und der Strafverfolgung (Polizei)

Auch sollte sichergestellt sein, dass Naloxon Ersthelfer:innen wie Polizei oder Krankenwagenpersonal und in Notaufnahmen zur Verfügung steht und angemessen eingesetzt wird.

Opioid-Agonisten-Therapie

Mit der Opioid-Agonisten-Therapie (OAT) – auch Opioid-Substitutionstherapie (OST) bzw. medikamentengestützte Therapie genannt – werden Opioidabhängige behandelt. Zwei der am häufigsten verwendeten Medikamente sind Methadon und Buprenorphin. Diese morphinähnlichen Substanzen wirken wie natürliche Opiumextrakte. Sie werden je nach Bedarf der behandelten Person für kurze oder lange Behandlungszeiträume verschrieben. Die Therapie hat dann die größte Aussicht auf Erfolg, wenn sie mit Maßnahmen wie Beratung, soziale Unterstützung, Überwachung des Substanzkonsums sowie Aufklärung und Rückfallprävention kombiniert wird.

Zu den operativen Risiken der OAT für Menschen, die synthetische Opioide konsumieren, gehören Rückfälle, Abzweigung und Missbrauch der Medikamente sowie Überdosierungen. Bei der Umsetzung der OAT für Konsumierende von synthetischen Opioiden sind eine routinemäßige Kontrolle und Evaluierung, qualifiziertes ärztliches Personal und Take-Home-Medikation wichtig. Gleichzeitig muss auf schwere Infektionskrankheiten und die Lebensqualität der behandelten Personen geachtet werden. Ein gut funktionierendes OAT-System kann einen wirksamen Schutzmechanismus im Kampf gegen den illegalen Opioidmarkt bieten. Die OAT ist nach wie vor der wichtigste Ansatz zur Behandlung von Konsumstörungen im Zusammenhang mit Opioiden und synthetischen Opioiden.

Fazit

Um die komplexen Herausforderungen im Kontext von synthetischen Opioiden zu bewältigen, reichen ein einzelner Ansatz sowie herkömmliche Maßnahmen nicht aus. Neue und innovative Ansätze wie Drug-Checking, E-Health und Internet-Monitoring sind notwendig, um etablierte Maßnahmen wie die OAT zu ergänzen. Da jede Maßnahme ihre Schwachstellen hat, liegt der Schlüssel zum Erfolg in der Kombination und Integration verschiedener Ansätze.

Anmerkung des Autors: Für die textliche Unterstützung danke ich Wissenschaftsjournalistin Ursula Katthöfer (textwiese.com) sehr herzlich.

Kontakt:

Prof. Dr. Heino Stöver, Dr. Babak Moazen
Frankfurt University of Applied Sciences
Institut für Suchtforschung (ISFF)
hstoever(at)fb4.fra-uas.de

Angaben zum Autor:

Prof. Dr. Heino Stöver leitet den Studiengang „Suchttherapie und Sozialmanagement in der Suchthilfe“ des Instituts für Suchtforschung (ISFF) an der Frankfurt University of Applied Sciences.

Literatur:
  • Institut für Suchtforschung an der FRA-AUS (ISFF) und akzept e.v. (Hg.): SO-PREP, Toolkit mit Schlüsselstrategien zur Bekämpfung der mit synthetischen Opioiden verbundenen negativen Folgen, Frankfurt 2023, www.akzept.eu/publikationen
  • Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (2022), Europäischer Drogenbericht 2022: Trends und Entwicklungen, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg 2022, doi:10.2810/541855
  • Deutscher Bundesstag: Bundestag stimmt für Frühwarnsystem gegen Medikamentenmangel. https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw25-de-arzneimittellieferengpass-954384