Eine Analyse der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS)
Das Verständnis von Suchthilfe muss im Kontext vergangener und aktueller Entwicklungen wie z. B. der Einführung des Neunten Sozialgesetzbuches, der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) und der 2006 von den Vereinten Nationen verabschiedeten UN‐Behindertenrechtskonvention (UN‐BRK) immer wieder neu definiert werden. Die Auffassungen davon, was hilfreich, wirksam, logisch und effizient ist, prallen auf die harten Bedingungen der Machbarkeit und Finanzierbarkeit in einem sozial‐ und leistungsrechtlich stark gegliederten Versorgungssystem. Statt einer volkswirtschaftlich orientierten Optimierung des Gesamtsystems befürchten viele Experten für die Zukunft eine zunehmend betriebswirtschaftlich orientierte, ineffiziente Optimierung von Teilsystemen mit beliebig anmutender Ressourcenverschiebung auf Kosten jeweils anderer Segmente. Finanziell begründete Restriktionen in komplementären Versorgungsfeldern führen möglicherweise dazu, dass Patienten mit ‚schlechten‘ Prognosen zunehmend weniger erreicht werden.
Aktuelle Entwicklungen machen eine Bestandsaufnahme erforderlich!
Um die wesentlichen Meilensteine der Entwicklung des deutschen Suchthilfesystems identifizieren und daraus Handlungsempfehlungen für die Zukunft ableiten zu können, wurde von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) 2012 ein Ausschuss eingesetzt, der mit Experten aus unterschiedlichen Leistungsbereichen und Verbänden besetzt war. Dieser Ausschuss hat sich intensiv mit den sozial- und leistungsrechtlichen Grundlagen der verschiedenen Bereiche des Suchthilfesystems auseinandergesetzt, eine umfassende Analyse der Funktionsfähigkeit des Systems erarbeitet und Perspektiven für die zukünftige Entwicklung aufgezeigt. Dem Ausschuss gehörten an: Gabriele Bartsch (Stv. Geschäftsführerin DHS), Renate Walter-Hamann (Deutscher Caritasverband), Hans Böhl (Jugendberatung und Jugendhilfe Frankfurt/Caritas Suchthilfe), Eberhard Ewers (Der Paritätische Gesamtverband), Dr. Heribert Fleischmann (Bezirkskrankenhaus Wöllershof/Vorsitzender DHS), Dr. Andreas Koch (Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe), Jost Leune (Fachverband Drogen- und Suchthilfe), Dr. Theo Wessel (Gesamtverband für Suchtkrankenhilfe/Stv. Vorsitzender DHS).
Die von dem Expertenausschuss erstellte Strukturanalyse mit dem Titel „Suchthilfe und Versorgungssituation in Deutschland“ wurde von der DHS im Februar 2014 veröffentlicht und stand bislang nur als pdf-Dokument zur Verfügung. Nun wird sie auch ‚internetgerecht‘ dargestellt. Sie ist auf der Internetseite der DHS unter DHS Stellungnahmen > Versorgungsstrukturen freigeschaltet. Alle Interessierten sind herzlich dazu eingeladen, sich mit den Ergebnissen der Analyse kritisch auseinanderzusetzen und in eine Diskussion mit der DHS einzutreten. Im Folgenden werden die wesentlichen Inhalte und Ergebnisse kurz zusammengefasst.
Warum ist das deutsche Suchthilfesystem so, wie es ist?
Um zu verstehen, wie das deutsche Suchthilfesystem funktioniert und warum es sich so entwickelt hat, ist es notwendig, einen Blick auf die Entwicklung der letzten 50 Jahre zu werfen. Beginnend mit dem Urteil des Bundessozialgerichtes (BSG) von 1968 zur grundsätzlichen Anerkennung von ‚Trunksucht‘ als Krankheit und den folgenden Urteilen zur leistungsrechtlichen Zuständigkeit von Kranken‐ und Rentenversicherung werden die unterschiedlichen Entwicklungslinien aufgezeigt. Mit Hilfe eines Zeitstrahls, in dem die wesentlichen Meilensteine (BSG‐Urteile, Modellprojekte, Rahmenkonzepte etc.) verzeichnet sind, lässt sich nicht nur die chronologische Entwicklung des Suchthilfesystems in Deutschland nachzeichnen, sondern es werden auch die Kausalzusammenhänge deutlich, die zu der teilweise sehr komplexen Struktur des Suchthilfesystems bis heute geführt haben. Die historische Entwicklung hat einerseits zu einem sehr breiten und differenzierten Angebot von Hilfen und Interventionen geführt, andererseits aber auch zu einem teilweise unübersichtlichen Geflecht von Rechtsgrundlagen, Zuständigkeiten und Finanzierungsformen.
Was funktioniert im Suchthilfesystem und was nicht?
Bei der Analyse und Bewertung der Funktionsfähigkeit des Suchthilfesystems gilt es, eine Vielzahl von Aspekten zu berücksichtigen: die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die unterschiedlichen Zielgruppen, die vielfältigen Finanzierungsgrundlagen, die Anforderungen der Leistungsträger, die verschiedenartigen Leistungserbringer mit ihren sehr unterschiedlichen und teilweise stark voneinander abgegrenzten Angeboten. Im Suchthilfesystem und zwischen den darüber hinaus involvierten Systemen gibt es eine Vielzahl von Schnittstellen, deren Funktionieren erheblich über Erfolg oder Misserfolg personenzentrierter Suchthilfe entscheidet. Zur Analyse und Bewertung der Funktionsfähigkeit des Suchthilfesystems wurden in einem ersten Schritt die relevanten Interventionen im Hilfesystem identifiziert und in einer Matrix die leistungsrechtlichen Grundlagen (SGB’s, weitere Gesetze, freiwillige Leistungen) dargestellt. Weiterhin wurden zur Darstellung der Funktionsfähigkeit des Hilfesystems an konkreten Beispielen exemplarische Zielgruppen (typische/häufige Personengruppen oder Menschen mit besonderem Hilfebedarf) beschrieben. In einem zweiten Schritt wurde in verschiedenen Expertendiskussionen analysiert, wie bedarfsgerecht diese Zielgruppen beraten bzw. behandelt werden und wie gut die unterschiedlichen Interventionen ineinandergreifen. Auf dieser Grundlage wurden in einer weiteren Matrix die Ergebnisse der Analyse der aktuellen Versorgungsrealität dargestellt. Die einzelnen Bewertungen sind mit Begründungen hinterlegt.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es für jeden (auch sehr spezifischen) Hilfebedarf von betroffenen Menschen passende Angebote im deutschen Suchthilfesystem gibt. Problematisch ist allerdings, dass die Zuständigkeiten und Finanzierungsmöglichkeiten extrem kompliziert geregelt sind und ein nahtloses Ineinandergreifen sinnvoll kombinierter Interventionen daher nicht immer möglich ist.
Wie soll sich das Hilfesystem zukünftig entwickeln?
Aus den Analyseschritten (historische Entwicklung und kritische Bestandsaufnahme zur aktuellen Situation) wurden Handlungsempfehlungen abgeleitet. Damit das Suchtversorgungssystem auch in Zukunft in seiner Wirksamkeit und Leistungsfähigkeit erhalten werden kann, sind Weiterentwicklungen auf der Ebene der Rahmenbedingungen und der Institutionen notwendig. Im Hinblick auf die Rahmenbedingungen (strategische Ebene) sollten beispielsweise die konsequente Umsetzung des SGB IX und seine zielgerichtete Weiterentwicklung zu einem wirksamen Leistungsgesetz ebenso im Fokus der zukünftigen Entwicklung stehen wie die Aufrechterhaltung der Koordinationsfunktion der Bundesländer. Im Hinblick auf die Institutionen (operative Ebene) sollte die Etablierung von verbindlichen Kooperationsstrukturen (Suchthilfenetzwerke, Case Management) im Mittelpunkt der Entwicklung stehen. Und schließlich müssen Dokumentation, Statistik und Forschung stärker als bisher die Wirksamkeit einzelner Interventionen und des gesamten Systems in den Blick nehmen. Staat und Gesellschaft werden die Leistungsfähigkeit des Suchthilfesystems in Deutschland zukünftig kritischer bewerten und dabei verstärkt die Frage nach dem ‚Social Return on Investment‘ stellen. Daher sind Maßnahmen zur verbesserten Koordination der einzelnen Segmente und zur transparenteren Darstellung der Wirksamkeit der Leistungen erforderlich.
Kontakt:
Dr. Andreas Koch
Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V.
Wilhelmshöher Allee 273
34131 Kassel
andreas.koch@suchthilfe.de
www.suchthilfe.de
Angaben zum Autor:
Dr. Andreas Koch ist Geschäftsführer des Bundesverbandes für stationäre Suchtkrankenhilfe e. V., Kassel, Vorstandsmitglied der DHS und Mitherausgeber von KONTUREN online.