Wolfgang Schmidt-Rosengarten

Suchtarbeit 4.0 – Was verändert sich durch die Digitalisierung?

Wolfgang Schmidt-Rosengarten

Digitalisierung ist eine Revolution. Sie wird nicht nur die Wirtschaft und die Produktion radikal verändern, sondern auch unsere Kommunikation. Bis auf die Beziehungsebene werden die Auswirkungen spürbar werden. In sehr kurzen Zeitabständen werden immer weitere Innovationen marktreif. Nicht zuletzt wird sich durch die Digitalisierung das Arbeitsleben verändern. Es wird Aufgabe der Politik sein, dafür Sorge zu tragen, dass dieser Prozess die Gesellschaft nicht in Digitalisierungsgewinner und Digitalisierungsverlierer spaltet.

Die Digitalisierung ist bereits dabei, zunehmend alle Lebensbereiche zu durchdringen und zu verändern. Bereits heute sehen wir, dass ganze Häuser in kürzester Zeit im 3D-Druck erstellt werden, dass selbstfahrende Autos in Aussicht gestellt sind. Auch im Gesundheitsbereich werden heute Methoden eingesetzt, die vor wenigen Jahren noch nach Science-Fiction geklungen haben. Virtual Reality-Brillen finden erfolgreich Anwendung in der Arbeit mit demenzkranken Menschen oder in der Schmerztherapie. Depressionen werden mit Online-Therapieangeboten behandelt, und das Smartphone hilft bei der Hautkrebsvorsorge. Bewerbungsgespräche werden immer mehr von Chat-Bots und von mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten Roboterelementen flankiert.

Die Dynamik dieser Entwicklungen ist atemberaubend, dabei stehen wir erst am Anfang. Gleichwohl ist die Digitalbranche schon größter Arbeitgeber in Deutschland. Von den fünf wertvollsten Konzernen der Welt sind Anfang 2018 fünf Digitalkonzerne.

Was kann die Digitalisierung der Suchthilfe und ihren Klient/innen bieten?

Ratsuchende informieren sich bereits heutzutage immer häufiger im Internet über Angebote, kommunizieren über soziale Netzwerke und suchen online nach seriösen Informationsmöglichkeiten und kompetenter Beratung. Zudem nutzen sie verstärkt mobile Kommunikationskanäle.

Auch wenn der Bedarf an individueller und qualitativ hochwertiger Beratung von Mensch zu Mensch bleiben wird, wird dennoch die Nachfrage und Akzeptanz gegenüber digitalen Dienstleistungen ansteigen. Die Digitalisierung wird deshalb auch für psychosoziale Dienste das Thema in den nächsten Jahren sein.

Wenn in der Suchthilfe oder Suchtprävention das Thema Digitalisierung im Mittelpunkt steht, geschieht dies bislang zumeist nur mit dem Fokus auf die Klient/innen. Entweder weil eine mögliche Suchtgefahr durch die exzessive Mediennutzung droht oder weil man die technischen Möglichkeiten als neue Kommunikationskanäle im Kontakt zu Klient/innen betrachtet. Vielfach unbeachtet bleibt, welche Änderungen des Arbeitsfeldes durch die veränderten Angebote entstehen, z. B. dass neue Qualifikationsanforderungen an die Mitarbeiterschaft gestellt werden. Aber auch die anstehenden Veränderungen von Arbeitsabläufen in der Verwaltung und dem Management von Einrichtungen durch diese Entwicklungen, bis hin zu der Frage, wie zukunftsfähig Suchtberatungsstellen, wie wir sie heute kennen, zukünftig noch sind, scheinen mir noch zu wenig im Blickfeld zu sein.

In der Suchtprävention und Suchthilfe haben sich in den letzten Jahren durchaus Aktivitäten entwickelt, digitale Techniken für das Arbeitsfeld zu nutzen. Im Internet finden sich strukturierte Programme, Apps und Selbsthilfemanuale. Informationsportale für unterschiedliche Zielgruppen geben Menschen Orientierung, bieten anonym und kostenfrei Hilfe, 24 Stunden/7 Tage. In Hamburg wird das komplette Angebot einer Beratungsstelle online vorgehalten. Fortbildungen sparen als Webinare Zeit und Fahrtkosten und vergrößern die Teilhabe an Fortbildungen. Erklärvideos lassen sich schnell in mehreren Sprachvariationen erstellen und kommen einem geänderten Rezeptionsbedürfnis nach.

Diesen digitalen Solitärangeboten der Suchthilfe steht im ambulanten Bereich eine Praxis gegenüber, in der potentielle Klientinnen und Klienten allerdings hinnehmen müssen,

  • dass viele Homepages von Suchtberatungsstellen kaum mehr als dürftige Informationen über das Angebot, die Mitarbeitenden und ihre Qualifikation bieten,
  • dass ihnen Anfragen per Email nicht angeboten werden,
  • dass zum Notieren der komplexen Öffnungszeiten einer Beratungsstelle laut Text auf dem Anrufbeantworter eine halbe DIN A4-Seite notwendig ist,
  • dass sie lange Anfahrtswege in Kauf nehmen sollen, um Informationen zu erhalten,
  • dass ihnen Gespräche nur zu Zeiten angeboten werden, zu denen sie vielfach arbeiten müssen.

Solchen Gegebenheiten stehen Wünsche und Bedürfnisse seitens der Klient/innen oder Angehörigen gegenüber, die sich wie folgt skizzieren lassen: schnelle kostenlose Unterstützung, Hilfe soll dann zur Verfügung stehen, wenn es gewünscht wird (24 Stunden/7Tage). Die Inanspruchnahme soll einfach und komfortabel sein, ohne Wartezeiten und Anrufbeantworter …

Ergänzt werden diese Anforderungen durch Wünsche seitens der (finanziellen) Auftraggeber der Einrichtungen: Die individuellen Problemlagen sollen schnell, effektiv, nachhaltig und kostengünstig verbessert werden, um persönliches Leid und gesellschaftliche Folgekosten zu minimieren bzw. potentielle Problemlagen erst gar nicht entstehen zu lassen.

Können digitale Assistenzsysteme bei der Bewältigung dieser Anforderungen helfen?

Es gibt mehrere Gründe, auf der Basis der Erfahrungen, die die Suchthilfe mit den vorhandenen Angeboten bereits gemacht hat, weitere digitale Assistenzsysteme zu entwickeln:

  1. Die aufgezeigten generellen Veränderungen in unserer Umwelt durch digitale Angebote und eine damit einhergehende geänderte Rezeption von Informationen und Unterstützungsleistungen verändern zunehmend auch die Erwartungshaltungen der Klient/innen in Bezug auf Suchthilfeangebote.
  2. Der demographische Wandel führt zu einer Zunahme immobiler Menschen nicht nur im ländlichen Raum. Zusätzlich sorgt die strukturelle Ausdünnung in ländlichen Gebieten auch für eine Reduzierung wohnortnaher Hilfestrukturen.
  3. Digitale Techniken bieten neue Möglichkeiten der Begleitung von Klient/innen. Erfahrungen mit digital gestützten Angeboten in der Nachsorge zeigen, dass diese dazu beitragen können, mit Menschen in kritischen Situationen in Kontakt zu bleiben und Rückfällen vorzubeugen. Der Einsatz digitaler Techniken bietet die Chance, den Anspruch der Suchthilfe, individuell auf Klient/innen einzugehen, weiter auszubauen.

In Deutschland leben circa zehn Millionen Menschen, die Probleme mit Suchtmitteln haben. Davon erreicht die Suchthilfe mit ihren umfangreichen Angeboten jedoch nur einen einstelligen Prozentsatz. Es ist seit vielen Jahren der ausgesprochene Wunsch der Suchthilfe, mehr Menschen, und diese zu einem früheren Zeitpunkt, mit dem Suchthilfesystem in Kontakt zu bringen. Auch die Politik hat dieses Ziel mit mehreren entsprechenden Modellvorhaben und Forschungsarbeiten unterstützt, ohne dass sich jedoch in der Praxis große positive Veränderungen gezeigt hätten.

Die Tatsache, dass Suchthilfeangebote nur einen Bruchteil der betroffenen Menschen erreichen, muss Anlass sein, darüber nachzudenken, wie mithilfe digitaler Angebote der Erreichungsgrad erweitert werden könnte. Möglichkeiten der unkomplizierten und niedrigschwelligen Zugänge zum Hilfesystem sind hier primär zu nennen. Diese digitalen Angebote sollten über eine Schnittstelle zur Kontaktaufnahme mit einer professionellen Hilfeeinrichtung verfügen. Der Kontakt kann je nach den Bedürfnissen der/des Betroffenen per E-Mail-Chat, telefonisch oder face-to-face erfolgen.

Die Erfahrungen zeigen, dass Klient/innen nach wie vor Wert auf den persönlichen Kontakt zu ihrem Berater/ihrer Beraterin oder ihrem Therapeuten/ihrer Therapeutin legen. Allerdings liegen inzwischen bei verschiedenen Krankheitsbildern (z. B. Depressionen) Befunde vor, die auch bei einer ausschließlich online durchgeführten Therapie keine signifikanten Unterschiede bzgl. der Beziehungsqualität im Vergleich zu einer face-to-face-Therapie zeigen.

Datenschutz

Die aktuell große Dynamik bei der Entwicklung digitaler Angebote auch im Bereich der Suchthilfe und Suchtprävention erzeugt aufgrund des Anspruchs der Ressourcenschonung und des Verbraucherschutzes einen dringlichen Bedarf nach Systematisierung und Qualitätsbewertung der Angebote.

Das Thema Datenschutz verdient gerade im sensiblen Bereich der Suchhilfe höchste Beachtung. Die gesetzlichen Vorgaben zur Datensparsamkeit und Datenvermeidung sind auch bei Angeboten der Suchthilfeträger unbedingt zu beachten. Elektronische Kommunikationswege sollten die aktuell sichersten Übertragungsstandards verwenden. Die Diskussion um den Datenschutz darf allerdings nicht dazu missbraucht werden, um Veränderung zu unterbinden.

Fördermöglichkeiten

Die Politik hat die enorme Bedeutung des digitalen Wandels erkannt und stellt Fördermöglichkeiten zur Verfügung, die auch für Suchthilfeträger von Interesse sein können. In Hessen hat z. B. das Sozialministerium zwölf Millionen Euro für innovative E-Health-Projekte in den Haushalt 2018/19 eingestellt.

Während das Internet per se keine räumlichen Grenzen kennt, existieren diese allerdings in starkem Maße in den gesetzlichen Finanzierungsvorgaben bei Kommunen und Ländern. Diese Herausforderung bedarf eines kreativen Umgangs mit der Finanzierung von internetgestützten Angeboten, die auch von Menschen außerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereichs in Anspruch genommen werden (können).

Handlungsschritte

Suchthilfeträger sollten jetzt die Zeit dafür nutzen, sich intensiv mit der Thematik zu beschäftigen, die Mitarbeiterschaft fortzubilden, zu prüfen, inwieweit digitale Assistenzangebote die aktuellen Hilfemöglichkeiten erweitern können, und diese dann mit Hilfe staatlichen Fördermöglichkeiten entwickeln.

Als erster Schritt in diese Richtung wäre es notwendig, dass sich das Arbeitsfeld den aktuellen Entwicklungen stärker öffnet und verstehen lernt, was es eigentlich heißt, am Anfang einer „digitalen Revolution“ zu stehen, und welche Auswirkungen diese „disruptive Technologie“ für das eigene Arbeitsfeld hat. Hierbei könnten die Verbände eine koordinierende Funktion einnehmen und umgehend entsprechenden Fortbildungsangebote anbieten.

In einem zusätzlichen Qualifizierungsprogramm könnten technikaffine und innovative Mitarbeiter/innen mit Unterstützung der verbandlichen Fortbildungsakademien und Landesstellen für Suchtfragen zu „Digitalen Lotsen“ ausgebildet werden. Die Teilnehmer/innen erhalten dabei einen Überblick über die Digitalisierung im psychosozialen und E-Health-Bereich. Weitere Themen wären z. B. die Klärung von Rechtsfragen und Datenschutzaspekten im Kontext der Digitalisierung. Auch die Kommunikation in internetbasierten Netzwerken wie Foren, Blogs und sozialen Medien sollte Teil der Qualifizierung sein.

Ihr Wissen und ihre Erfahrungen geben die Digitalen Lotsen als Multiplikatoren zielgerichtet an Kollegen/innen weiter. Praktische Hilfe im Umgang mit den neuen Anwendungsfeldern digitaler Assistenzmöglichkeiten zählt ebenso zu ihren Aufgaben wie das Bestreben, die Motivation für den digitalen Wandel weiter zu stärken. Durch den regelmäßigen Fachaustausch auf Landes- und/oder Bundesebene bauen die Digitalen Lotsen die digitale Fitness der Suchthilfe zum Wohle der Klientinnen und Klienten weiter aus.

Ausblick

Die schon angesprochene Dynamik der technischen Entwicklung wird sich auch in Zukunft fortsetzen. Die Rolle sprachgesteuerter Assistenzsysteme (Amazons Alexa oder Echo von Google) wird stärker, die Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) wird ‚Maschinen‘ in die Lage versetzen, eigenständig zu kommunizieren. Der Fortschritt in den Bereichen Virtual Reality und Augmented Reality wird ganz neue Eisatzmöglichkeiten dieser Techniken erschließen.

Die digitale Revolution ist keine Entwicklung, die man befürworten oder ablehnen kann, sondern ein kultureller Wandel, den es zu gestalten gilt. Die aktuellen Entwicklungen zeigen, dass nicht nur etablierte Firmen, sondern ganze Branchen durch die Digitalisierung von einem tiefgreifenden Wandel erfasst werden können. So wird die Taxibranche weltweit durch Unternehmen wie Uber in ihrer Existenz bedroht. Der traditionelle Einzelhandel wird durch Online-Anbieter immer mehr in die Defensive gedrängt und kann nur mit neuen, kundenorientierten Konzepten überleben.

Die freie Wohlfahrtspflege hat derzeit praktisch ein Monopol in der Suchtprävention und der ambulanten Suchtberatung. Dies resultiert – neben anderen historischen und gesetzlichen Gründen – auch daraus, dass mit diesen Arbeitsfeldern bislang kein Geld zu verdienen ist. Sollte Letzteres durch die Etablierung neuer, digitaler Geschäftsmodelle möglich werden, könnten Start-ups ganz schnell Angebote etablieren, die nicht unbedingt in der Tradition der Suchthilfeträger stehen (analog den zunehmend erfolgreicheren FinTechs in der Finanzwirtschaft) und zu einer völligen Neujustierung der Arbeitsfelder führen.

Ich würde mir wünschen, dass die Suchthilfeträger einer solchen Entwicklung nicht passiv zusehen, sondern möchte sie ermuntern, die fachlichen Kompetenzen der Suchthilfe um digitale Kompetenzen zu erweitern und diese Angebote selbst zur Verfügung zu stellen.

Den ersten Schritt haben Sie dazu heute mit dem Besuch dieser Veranstaltung gemacht. Dazu auch meinen herzlichen Glückwunsch an den buss. Es ist meines Wissens der erste bundesweite Suchtkongress, der das Thema so prominent aufgreift. Ein gutes und wichtiges – ein notwendiges Signal.

Herzlichen Dank.

Angaben zum Autor:

Wolfgang Schmidt-Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er rund 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.

Kontakt:

W.Schmidt-Rosengarten@t-online.de

Titelfoto©Ulrike Niehues-Paas