Prof. Dr. Rebekka Streck

Sucht ist divers

Prof. Dr. Rebekka Streck

Dass Sucht als Krankheit zu verstehen ist, scheint in der deutschsprachigen Fachwelt unstrittig. Ein solches Krankheitsverständnis beruht auf einem Diagnosesystem, in dem Symptome einer Diagnostik untergeordnet werden. Diese Praxis hat Vorteile – aber auch Nachteile. Ein Nachteil ist, dass die Diversität eines Phänomens aus dem Blick gerät.

Im Folgenden fokussiere ich auf die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Phänomens Sucht. Ich setze das Wort „Sucht“ kursiv. Dies soll verdeutlichen, dass es sich dabei um ein gesellschaftliches Deutungsmuster handelt. Zugleich soll diese Schreibweise zeigen, dass Sucht ein offenes Konzept ist, das von Menschen – so wie den im Folgenden zitierten Gesprächspartner:innen – individuell genutzt wird. Ich spreche nicht von Abhängigkeit, weil dieser Begriff (jenseits von diagnostischen Setzungen) alltagsweltlich weniger präsent und in seiner Wortbedeutung unspezifisch ist, denn Menschen sind von sehr vielen Handlungsweisen und Stoffen abhängig.

Nach einer kurzen kritischen Diskussion geläufiger Suchtdiagnostik werde ich einen lebensweltlichen Blick auf Sucht vorstellen, der Diversität zulässt, sogar nach ihr sucht. Hierzu werde ich anhand der Analyse von Interviews mit suchterfahrenen Menschen exemplarisch Unterschiede herausarbeiten und diese drei Kategorien zuordnen. Im Anschluss lege ich dar, welche Vorteile in einem solchen auf Diversität bezogenen Suchtverständnis liegen, im Gegensatz zu einem Verständnis, das nach Eindeutigkeit strebt. Dieser Artikel versteht sich als Teil der Wissenschaft Soziale Arbeit. Lebensweltorientierung (Thiersch u. a. 2012) ist eine der zentralen Theorien Sozialer Arbeit im deutschsprachigen Raum.

1. Das Deutungsmuster „Sucht als Krankheit“ als Reduktion der Komplexität und Diversität

Psychiatrisch-medizinisch geprägte Suchtdiagnostik ist gekennzeichnet durch Subsumtion (= Unterordnung). Ein Leiden, eine Beschreibung, ein Gefühl oder die Ergebnisse eines Tests werden einer Oberkategorie zugeordnet. Durch quantitative Forschung gestützte Diagnostikmanuale wie ICD-11 oder DSM-5 sollen das Diagnostizieren erleichtern, indem sie wahlweise unterschiedlich viele Aspekte benennen und festlegen, dass, wenn eine bestimmte Anzahl davon mit Ja beantwortet wird, eine Abhängigkeit oder substance use disorder vorliege (bei DSM-5 in unterschiedlicher Ausprägung). So ist medizinische Diagnostik erst einmal dadurch gekennzeichnet, dass Komplexität reduziert wird, um Kategorisierungen vorzunehmen. Dass diese Reduktion an Komplexität herausfordernd ist, wenn ein in sich konsistentes Diagnoseschema entwickelt werden soll, verdeutlicht eine rege Diskussion sowie eine kontinuierliche Veränderung von Diagnostiksystemen (vgl. bspw. Rumpf u. a. 2011, Heinz u. a. 2022).

Ein solcher Prozess der Subsumtion prägt auch das alltagsbezogene Verständnis von Sucht. Menschen nehmen fremdes oder eigenes Handeln als abweichend und problematisch wahr und ordnen dieses dem Deutungsmuster Sucht zu. Diese alltägliche Typisierung eines Handelns als süchtig geschieht erheblich chaotischer und stärker subjektiv und kulturell geprägt, als es in der disziplinären Debatte in Psychologie und Medizin der Fall scheint. So begegnet uns Sucht ständig, im Gespräch mit der Freundin, die sich über das Computerspielverhalten ihres Freundes erregt, genauso wie in unterschiedlichsten medialen Formaten.

Sucht ist also erstmal ein Deutungsmuster, mit dem diverse Phänomene in einen Container gepackt werden. Ein solches Deutungsmuster dient der alltäglichen oder auch der fachdisziplinären Kommunikation (vgl. Schmidt-Semisch 2010). Im sozialstaatlichen verwalterischen Umgang mit abweichendem Handeln dient es auch dazu, Zugänge zu öffentlich finanzierten Hilfemaßnahmen zu gewähren oder zu begrenzen. Es kann auch hilfreich sein, um das eigene oder fremde Handeln zu verstehen, ihm eine beispielsweise durch Medizin und Psychologie abgesegnete Bedeutung zu geben. Zugleich können solche vereinheitlichenden Deutungsmuster aber auch irreführend sein, weil möglicherweise auf subjektiver Ebene sehr unterschiedliche Erfahrungen gleichgesetzt werden. Vereinheitlichende Deutungsmuster können als einengend und stigmatisierend empfunden werden, weil die eigene Geschichte durch mächtigere Deutungen überschrieben wird (vgl. Boyd u.a. 2020).

Eine solche Subsumtion kann auch den fachlichen Blick verstellen, so dass beispielsweise Sozialarbeiter:innen oder auch Ärzt:innen voreilig ihre Schlüsse ziehen, ohne den Einzelfall angemessen zu würdigen. Schütze (1992, S. 148 f.) sieht in dieser Paradoxie professionellen Handelns ein Risiko für Stigmatisierung und fachliche Fehleinschätzungen. In der Typisierung klammern Fachleute „sehr häufig – eigentlich empirisch durchaus vorliegende – konkrete, ‚schwierige‘ Informationen des Einzelfalls aus, die ein genaueres differenzierendes Hinsehen erforderlich machen und die automatische Anwendung von Typenkategorien verbieten würden“ (Schütze 1992, S. 149).

2. Den lebensweltlichen Blick auf Diversitäten zulassen

Auch wenn Sozialarbeiter:innen sich punktuell auf bio-medizinische Krankheitsverständnisse beziehen, bestimmen diese nicht ihre alltägliche Praxis. So wird in der Sozialen Arbeit eine lebensweltliche, soziale Diagnostik präferiert, die sich bspw. auf die ICF, die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, bezieht (vgl. Hansjürgens/Schulte-Derne 2020). Darüber hinaus möchte ich im Folgenden diesem diagnostizierenden Blick einen lebensweltlichen Blick zur Seite stellen. Hier geht es um die Frage, wie Menschen, die selbst sagen, dass sie süchtig sind oder süchtige Phasen durchlebt haben, Sucht beschreiben.

Füssenhäuser (2016, S. 214) entsprechend verstehe ich Sucht als „ein spezifisches Deutungs- und Handlungsmuster, in und mit dem Menschen/Subjekte ihr Leben gestalten“. Dieses Deutungs- und Handlungsmuster kann im Kontext der Bewältigung alltäglicher Aufgaben Handlungsoptionen eher eröffnen oder eher schließen. Funktionalität und Dysfunktionalität können auch gleichzeitig bestehen oder sich in einer dynamischen Entwicklung abwechseln.

Diversität von Sucht kann mindestens auf vier Ebenen betrachtet werden: Erstens kann das Deutungsmuster über verschiedene Zeiten und sozio-kulturelle Orte hinweg verglichen werden. Zweitens kann es aus einer intersektionalen Perspektive analysiert werden. Wie beeinflussen bestimmte Ungleichheitskategorien (bspw. Geschlecht, ökonomische Ressourcen oder Staatsbürgerschaft) die Klassifikation eines Handelns als süchtig oder auch das Erleben und Bewältigen von süchtigen Phasen? Drittens kann Diversität auch bezogen auf die präferierten Substanzen und ihre bio-medizinischen und sozialen Eigenschaften untersucht werden. So unterscheiden sich beispielsweise Praxen und das Erleben von Alkohol-, Crack- oder Tabakkonsum oder gar exzessivem Glücksspiel erheblich. Ich werde im Folgenden eine vierte Ebene in den Fokus nehmen: Welche Unterschiede zeigen sich in den Erzählungen von suchterfahrenen Menschen?

Mit dem Ziel, ein lebensweltliches Suchtverständnis zu entwickeln, begann ich im Oktober 2022 ein Lehr-Lern-Forschungsprojekt an der Evangelischen Hochschule Berlin. Studierende führten zehn problemzentrierte Interviews mit suchterfahrenen Menschen. Die Kontaktaufnahme erfolgte unsystematisch über das private Umfeld der Studierenden, über Praxisstellen Sozialer Arbeit sowie über Selbsthilfegruppen. Es wurden neun Männer und eine Frau interviewt. Vornehmlich konsumierten die Befragten illegale Substanzen (Cannabis, Amphetamine, Kokain oder Heroin). Sie waren zwischen 19 und 60 Jahre alt. Die Analyse wurde gemeinsam mit den Studierenden angestoßen und schließlich allein fortgesetzt und orientiert sich an dem Forschungsstil der Grounded Theory.*

Die Interviewtexte unterschieden sich stark voneinander und waren schwer unter ein lebensweltliches Suchtverständnis zusammenzufassen. Vielmehr wurden Unterschiede deutlich, die ich im Folgenden anhand von drei Kategorien darstellen werde: Motive für fortgesetzten Konsum (1), Verknüpfung von lebensweltlichen Aspekten mit dem Konsum (2) sowie Prozessverläufe (3). Ziel der folgenden Darstellung ist es nicht, Unterscheidungskategorisierungen zu fixieren. Hierzu bedürfte es einer entsprechenden Weiterführung der Forschung. Ich möchte die Bandbreite von Erfahrungen, die mit dem Deutungsmuster Sucht verbunden werden, darstellen. Zudem ist es mir wichtig, Menschen mit Suchterfahrungen selbst zu Wort kommen zu lassen. Denn ein Blick in die deutschsprachige Forschungslandschaft verdeutlicht, dass Menschen, die von sich sagen würden, dass sie süchtig sind oder waren, bisher kaum in den Diskurs zur Frage, was Sucht ist, einbezogen werden.

3. Suchterfahrene Menschen erzählen

3.1 Motive für fortgesetzten Konsum: Sucht als Anpassungsversuch oder inszenierte Besonderheit

Menschen berauschen sich mit legalen wie illegalen Substanzen. Die Gründe für den Konsum variieren: gemeinsam eine gute Zeit verbringen, Entspannung am Abend oder Intensivierung eines Erlebnisses (vgl. auch Barsch/Leicht 2014, S. 230). Auch suchterfahrene Menschen berichten von solchen Motiven. Bei den Motiven, den Konsum fortzusetzen und zu intensivieren, können mindestens zwei Begründungen unterschieden werden: Konsum als Bewältigung schwieriger Lebenssituationen einerseits und Konsum als Teil der Identitätsentwicklung andererseits.

Daniel ist beim Interview ungefähr 30 Jahre alt. Wir haben ihn über eine Selbsthilfegruppe der Narcotics Anonymous für ein Interview gewinnen können. Er erzählt, dass er mit 19 Jahren begonnen hat, regelmäßig Cannabis zu rauchen, um sich „dicht zu machen. Das heißt, die Realität war mir zu viel.“ Er sagt: „Das Cannabis habe ich funktional genutzt, […] um mich zu betäuben.“ Er habe eine „hohe Grundanspannung“, und Cannabis habe ihm dabei geholfen, sich zu entspannen. Mit der Wirkung von Cannabis gelang es ihm, sich „freier zu fühlen und um auch tanzen zu können“ und auch „soziale Ängste“ zu bewältigen. Insofern erweitert der Konsum von Cannabis zunächst seine Handlungsmöglichkeiten, weil er sich in Situationen bewegen kann, die ihm zuvor verschlossen geblieben waren. Das Rauchen von Cannabis hilft ihm, soziale und emotionale Komplexität zu reduzieren. Der Konsum kann somit als Anpassungsversuch an soziale Anforderungen gedeutet werden.

Konträr zu dieser Beschreibung erzählt Andreas, dass er derjenige gewesen sei, der immer „ins Extrem und dann noch einen Schritt weiter“ gegangen sei. Andreas ist zum Zeitpunkt des Interviews 30 Jahre alt. Ein Student hat über eine gemeinsame Freundin zu ihm Kontakt aufgenommen. Andreas beginnt das Interview folgendermaßen: „Also es ist relativ früh schon sichtbar geworden, 14, 15, 13 um den Dreh. Extrem extrovertiertes Verhalten. Immer so ein bisschen ins Extreme gehen müssen und so, um Aufmerksamkeit zu generieren.“ Andreas stellt seinen Drogenkonsum in den Kontext einer Selbstbeschreibung. Dieser hilft ihm aber nicht – wie Daniel –, sich sozialen Anforderungen anzupassen, sondern ermöglicht ihm, sich als besonders darzustellen. Im weiteren Verlauf des Interviews bringt er die Funktion des Drogenkonsums auf den Punkt: „Also so blöd das klingt, es war halt ein Stück von mir sozusagen, wie ich mich gegeben habe. Ich war halt Andreas, so ein bisschen das Sorgenkind. Andreas der Süchtige, was weiß ich, um den man sich kümmert und der ja voll lieb ist und den wir voll gern haben und so.“

Sowohl Daniel als auch Andreas leben mittlerweile weitgehend abstinent. Sie beschreiben, dass sie ihren Konsum verändert haben, als diese Strategien im Kontakt zu anderen Menschen zunehmend dysfunktional wurden. Für Daniel behindert der Konsum zunehmend das angestrebte integrierte Leben (bspw. Kritik von Freund:innen, Probleme beim Lernen für die Universität). Andreas befürchtet, an einem Punkt seine Familie zu verlieren, die ihn lange begleitet hat. Sucht wird in beiden Fällen sozial kontextualisiert: als Anpassungsversuch oder inszenierte Besonderheit.

3.2 Verknüpfung von lebensweltlichen Aspekten mit dem Konsum: Sucht als soziale Eingebundenheit oder radikales Ausblenden sozialer Einflüsse

Eine Vielzahl von Unterschieden im Erleben des Konsums psychoaktiver Substanzen und im Erzählen davon zeigt sich auf einer zweiten Ebene. Diese Ebene entspricht dem, was mit der Akteur-Netzwerk-Theorie als „Attachements“ bezeichnet werden kann (vgl. Gertenbach 2019, Streck 2022). Menschen stellen in ihrem Alltag unterschiedliche Verknüpfungen zwischen Substanzen, Zeiten, Orten oder auch sozialen Beziehungen her. Diese Verknüpfungen prägen auch die Möglichkeiten der Veränderungen des Konsums.

Denise ist zum Zeitpunkt des Interviews 19 Jahre alt. Eine Studentin hat über ein Jugendberufshilfeprojekt zu ihr Kontakt aufgenommen. Denise erzählt, dass sie auf der Straße gelebt hat, nachdem sie aus einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe „abgehauen“ war. Im Interview gibt es mehrere Passagen, in denen Denise das Leben auf der Straße, ihre soziale Eingebundenheit und ihren Drogenkonsum (v. a. Kokain, Speed und Ecstasy) miteinander verknüpft. So antwortet sie auf die Frage, welche Rolle ihre Freundinnen und Freunde bezogen auf den Konsum spielen: „Also dieses Motto, nach dem Motto, wenn du Drogen nimmst, geht‘s ja wieder gut so, und du bist halt so in deiner Welt so und du bist halt nicht alleine so.“ Sie stellt die Erfahrung von Gemeinsamkeit heraus: „Auch die Freunde, die dabei waren so. Die waren alle genauso verballert wie ich so. Aber es hat mir irgendwie auch gefallen, so irgendwie, dass wir alle zusammen auf demselben Film waren.“ Denise bearbeitet ihre Einsamkeitsgefühle, indem sie mit anderen Menschen illegale Substanzen konsumiert. Beides, die Wirkung der Drogen und das gemeinsame Handeln, helfen ihr bei der Bewältigung der schwierigen Lebensphase. Zugleich bietet die Gruppe auf der Straße einen Zufluchtsort in einer Zeit, in der andere Möglichkeiten der Einbindung (Jugendhilfe oder auch Kontakte zu den Eltern) konflikthaft sind.

Denises ambivalente Haltung gegenüber dieser Eingebundenheit und ihre Erkenntnis, dass das Leben auf der Straße auch mit vielen Verletzungen und Enttäuschungen einhergeht, nimmt dieser biografischen Erfahrung nicht ihre emotionale Bedeutung und die damit erfahrene Sicherheit. Im Interview erzählt Denise, dass sie kein Verlangen hat, Drogen zu nehmen, wenn sie bei ihrem Vater ist. Für sie gibt es somit Menschen und Orte, die mit dem Konsum von Drogen verknüpft sind, und andere Menschen und Orte, mit und an denen sie keine Drogen nimmt.

Während solche Verknüpfungen in Denises Erzählungen sehr bedeutsam sind, spielen sie in Roberts Erzählungen keine Rolle. Ihm scheint es stärker um die Wirkung der Substanz selbst und die damit einhergehenden Handlungen zu gehen. Eine Studentin hat den Kontakt zu Robert über gemeinsame Freund:innen hergestellt. Er ist 33 Jahre alt und erzählt, dass er zwischen 19 und 21 Jahren exzessiv Amphetamine genommen hat. Diese Phase, in der er „eigentlich bloß noch für die Drogen gelebt“ habe, mündete in die Einweisung ins Krankenhaus aufgrund einer psychotischen Episode, nachdem er sieben Tage wach gewesen sei.

Seine Konsumphasen beschreibt Robert so: „Wenn man dann halt relativ viel nach einer Zeit, irgendwie so eins, zwei Gramm, wenn der Körper halt mehr aushält sozusagen. Ähm ja, wird es halt trotzdem irgendwie, ja man kriegt einen Art Tunnelblick, sowas habe ich oft beim Zocken dann gehabt, dass ich dann halt voll den Tunnelblick hatte und konnte halt wirklich die ganze Zeit irgendwie halt eine und dieselbe Sache machen. Ich habe dann zum Schluss irgendwie, drei Stunden am Stück, ohne mich zu bewegen, Solitär gezockt auf dem Handy. Das war dann halt irgendwie total der Film, ja.“

Aus Roberts Schilderungen kann geschlossen werden, dass im Verlauf der Steigerung seines Amphetaminkonsums für ihn andere Menschen weitgehend unbedeutend waren. In diesem Ausschnitt verbindet er den Konsum mit dem Spielen eines relativ simplen Computerspiels. Beides zusammen führte zu einem „Tunnelblick“, der es ihm ermöglichte, alle andere Dinge auszublenden. Auch er verknüpft den Konsum mit einer anderen Tätigkeit. Im Gegensatz zu Denise, für die der Konsum mit sozialer Eingebundenheit einher geht, hebt Robert stärker die Bindung an die Wirkung der Substanz selbst hervor. Der Konsumkontext scheint für ihn weniger relevant.

Mit der Hilfe eines Freundes distanziert sich Denise von ihrem sozialen Umfeld und reduziert ihren Konsum illegaler Substanzen. Robert wird nach mehreren Nächten ohne Schlaf ins Krankenhaus eingewiesen. Das Fehlen einer sozialen Eingebundenheit von Roberts Konsum begünstigt die exzessivere Konsumdynamik. In der situativen Verengung des Alltagslebens auf den Substanzkonsum zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu Denises Suchtverhalten.

Neben den Merkmalen von Substanzen (bspw. legal oder illegal, betäubend oder aufputschend) sind somit auch die Verknüpfungen der Konsumsituation und des sozialen Gefüges von großer Bedeutung, um spezifische Suchtdynamiken, aber auch Bedürfnisse und Sehnsüchte von Menschen zu verstehen, in deren Leben phasenweise der Konsum psychoaktiver Substanzen eine große Rolle spielt. Je nachdem, welche Aspekte miteinander verknüpft werden, kann es sein, dass Konsumveränderung begünstigt (bspw. wenn man aus einem Milieu herauswächst) oder auch erschwert wird (bspw. wenn ein Aufenthaltsort mit dem Konsum verknüpft ist).

3.3 Prozessverläufe: Sucht als persönlicher Veränderungs- oder Normalisierungsprozess

„Klassische“ Ergebnisse der Suchtforschung wie beispielsweise die „Subspecies of Alcoholism“ von Jellinek aus den 1960er Jahren (vgl. Kelly 2018, S. 3) oder die Analyse von Prozessen des „Herauswachsen aus der Sucht“ von Weber und Schneider (1997) zeigen, dass sich Konsummuster und Prozesse unterscheiden. Studien zu solchen Unterschieden sind jedoch immer noch marginal. Um die Bedeutung dieser Perspektive auf Sucht hervorzuheben, stelle ich die Erzählungen von Igor und Bernd dar.

Igor ist zum Zeitpunkt des Interviews 30 Jahre alt. Der Kontakt konnte über eine Selbsthilfegruppe der Narcotics Anonymous hergestellt werden. Er beschreibt, dass er mit 13 angefangen hat, regelmäßig Cannabis zu rauchen. Er sagt, dass es seine „erste Liebe“ gewesen sei, weil es ihm in einer Phase des Hin und Her zwischen Jugendhilfe und seiner Mutter half abzuschalten. Zugleich erleichterte das gemeinsame Kiffen eine Verbindung zwischen ihm und seiner Mutter. „Das hat son bisschen die Spannung rausgenommen.“

Mit Mitte zwanzig merkt er, dass das Kiffen das Lernen für die Ausbildung und das Fachabitur erschwert. Eine Entgiftung sowie eine Drogentherapie folgen. Erst nach der Drogentherapie, in der er neue Kontakt knüpft, beginnt er, andere illegale Substanzen auszuprobieren. Er bezeichnet diese Phase als „Experimentierorgie“. Er habe in einer recht kurzen Zeit das „Ende der Spirale schnell durchlaufen, um dann zu verstehen, dass es keine Substanz gibt, die mich irgendwie ja hält“. Es folgen die Kontaktaufnahme zu den Narcotics Anonymous und verschiedene stationäre und ambulante Therapien. „Es waren so viele Runden, dass ich das manchmal gar nicht so richtig rekapitulieren kann.“ Er stellt schließlich heraus: „Und ich würd sagen, dieses Kapitel Drogen ist auch irgendwann abgehakt für mich gewesen so. Ich hab mich jetzt ausgelebt mit der Sache und ähm bin ja jetzt auch 33.“ Rückblickend sagt er, dass seine Sucht „mein Lebensretter“ war. „Weil es war irgendwie meine intelligenteste Form, irgendwie mit dem Leben klar zu kommen.“ Zugleich sei es aber auch „Selbstzerstörung auf Raten“ gewesen, weil der Drogenkonsum seine Situation langfristig nicht verbessert habe.

Igor erzählt seine Konsumgeschichte als Prozess, in dem der Konsum die Bewältigung schwieriger Lebenssituationen erleichtert und zugleich andere Aspekte erschwert. Im Verlauf seiner Konsumgeschichte hat er sich mit den Wirkungen verschiedener Substanzen auseinandergesetzt. Phasen des Ausprobierens, Stabilisierens, Destabilisierens und Reflektierens wechselten sich ab. Sucht scheint hier Teil eines biografisch-dynamischen Veränderungsprozesses zu sein, dessen retrospektive Bewertung ambivalent ist und damit auch als bedeutsam für die eigene Entwicklung eingeschätzt wird.

Bernd ist zum Zeitpunkt des Interviews ungefähr 50 Jahre alt und wird von einem Studenten in einer Tagesstätte für Menschen in Substitution interviewt. Bernd erzählt, dass er als junger Mann verschiedene Substanzen im Partykontext aus Neugier probiert habe. „Sucht selber ist erst viele Jahre später durch Heroin entstanden.“ Mit ca. 30 Jahren bietet ihm ein Freund Heroin an, und dann habe sich der regelmäßige Konsum so „eingeschlichen“. Im weiteren Gesprächsverlauf wird deutlich, dass er seit ca. 20 Jahren Opiate konsumiert. Mit ca. 40 Jahren entscheidet er sich für eine Substitutionsbehandlung.

Das Interview mit Bernd unterscheidet sich deutlich von anderen Interviews. Bernd redet ruhig und abgeklärt über seinen Drogenkonsum. Zugleich scheint es kaum größere Krisen aufgrund des Konsums gegeben zu haben. Er berichtet von kürzeren Phasen, in denen er versucht habe, nicht zu konsumieren, letztlich aber wegen der Entzugserscheinungen wieder angefangen habe. Das Rauchen von Heroin begleitet ihn durch sein Leben. Die körperliche Abhängigkeit von Opiaten stellt er schließlich als Normalität in seinem Leben heraus, mit der er sich abgefunden habe. So sagt er: „Turn selber hat man nicht mehr, sondern nur, dass man aufm normalen Level ist.“ Im Gegensatz zu Igor berichtet Bernd nicht von Therapien oder Selbsthilfegruppen, auch die Auseinandersetzung mit seinem sozialen Umfeld scheint konfliktarm. Die biografische Erzählung lässt sich so deuten, dass der Drogenkonsum in einem Prozess der Normalisierung zum alltäglichem Begleiter wird.

Hier zeigt sich die Bandbreite der biografischen Prozesse mit und durch den Konsum illegaler Substanzen. Sucht kann eine zeitlich begrenzte biografische Phase beschreiben, genauso wie eine lebenslange Bindung an eine Substanz. Die Deutung von Drogenkonsum als Sucht kann das Resultat eines Prozesses der Bewusstwerdung oder die Interpretation körperlicher Reaktionen als Entzugserscheinungen sein. Genauso können süchtige Phasen als konflikthaft, eruptiv und als Grenzerfahrungen beschrieben werden, sie können aber auch relativ unauffällig auftreten und konfliktarm in die Arbeit am eigenen Alltag integriert werden.

4. Chancen eines Suchtverständnisses, das Vielfalt zulässt

Die Perspektive auf Diversitäten im Suchterleben kann Forschung und Praxis dazu anstoßen, eigene Glaubenssätze zu hinterfragen und das Erleben von Menschen und deren Erzählungen ernst zu nehmen.

Für die Suchtforschung heißt das, weniger nach typisierenden Mustern oder Regeln zu suchen, als Unterschiede hervorzuheben. Diese Perspektive ermöglicht auch eine komplexere Analyse von Einflussfaktoren auf Suchterleben und -verläufe.

Für die Suchthilfe heißt das, dass subjektbezogen und dialogisch gearbeitet wird. Es geht weniger darum, die eine Behandlungsform für diese oder jene Gruppe zu finden, als für jede Person erneut zu schauen, was bezogen auf ihre biografischen Erfahrungen, Deutungsmuster und ihren Alltag Unterstützung bedeuten kann. So fühlen sich Menschen in ihrer konkreten Einzigartigkeit sowie in den spezifischen sozialen Kontexten ihrer Erlebnisse ernst genommen.

Für in der Suchthilfe beruflich tätige Menschen bedeutet die Perspektive auf Diversitäten im Suchterleben auch, sich immer wieder überraschen zu lassen und nach dem Besonderen, Neuen und Erstaunlichen Ausschau zu halten. Brown und MacDonald (2022, S. 405) plädieren für das Zulassen, Fördern und Wertschätzen von „Counternarratives“. Solche Gegenerzählungen fordern gängige Sucht-Narrative heraus und wären somit elementarer Teil einer kritischen und stigmasensiblen klinischen Sozialen Arbeit.

Und für suchterfahrene Menschen heißt das, dass ihnen eine eigene, mitunter widersprüchlich, eigensinnige Deutung ermöglicht wird. Ihnen wird die Anstrengung erspart, sich mit den dominanten Deutungen anderer auseinandersetzen zu müssen. Die Arbeit mit lebensweltlichen Deutungen ermöglicht das Herstellen eigener Kohärenz und die Aneignung des süchtigen Erlebens unter eigenen, und nicht fremden Konditionen.

*Ich danke den Ko-Forschenden L. Beyer, J. Bürgel, F. Dürr, L. Fink, M. Gollnick, A. Heckert, S. Hofer, A. Janz, R. Kaiser, G. Kalayeh, H. Kiesewetter, S. Kuhn, K. Müller, R. Neumann, S. Pfitzner, V. Rakow, L. Sawatzki, C. Strauß, M. Vogt, J. Wockenfuß.

Kontakt:

Prof. Dr. Rebekka Streck
Studiengang Soziale Arbeit
Evangelische Hochschule Berlin
rebekka.streck(at)eh-berlin.de

Angaben zur Autorin:

Prof. Dr. Rebekka Streck hat eine Professur für Sozialpädagogik und die Studiengangsleitung des Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Berlin inne.

Literaturverzeichnis:
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