Dr. Andreas Dieckmann

Spiritualität – eine neue therapeutische Modewelle?

Es werden eine Menge therapeutischer Trüffelschweine durch die Dörfer der Behandlungsmethoden getrieben. Achtsamkeit, Schematherapie, traumatherapeutische Einzelmethoden, DBT und eine Fülle weiterer Neuentwicklungen werben um unsere Aufmerksamkeit.

Der klassisch ausgebildete Verhaltenstherapeut bzw. der in einem psychoanalytischen Verfahren bewanderte Heilkundige kennt die beiden gängigen, wissenschaftlich fundierten Richtungen und schätzt die Weiterentwicklungen, wenn sie mit dem theoretischen Hintergrund kompatibel sind oder so gut nachvollziehbar, dass sie in die erprobten Denkmethoden Eingang finden können – wie etwa die Bindungstheorie vom Bowlby in die Psychoanalyse.

Die Ökonomen des Gesundheitssystems liebäugeln mit Mischverfahren, deren einzelne Bestandteile als „evidenzbasiert“ gelten. Hier finden dann „modulgestützte Verfahren mit einem ganzheitlichen Ansatz“, die den Eindruck vermitteln wollen, die Addition verschiedener Techniken führe zum Erfolg, polypragmatische Interessenten. Diese Denkweisen überraschen nicht im Rahmen einer Medizin als Wirtschaftsbereich. Der psychischen Komplexität seelisch bedrängter Menschen werden sie jedoch nicht gerecht, der psychischen Störung schon gar nicht. Seit einiger Zeit taucht nun der Begriff der Spiritualität im Zusammenhang mit Psychotherapie auf. Wieder eine Modeerscheinung? Tatsächlich findet man in den Angeboten verschiedener Kliniken jetzt eine spirituell betonte Psychotherapie. Davon soll aber hier nicht die Rede sein.

Spiritualität ist die Verbindung von Realität und Transzendenz

Sigmund Freud hatte sein Leben lang ein Problem mit der Religion. Deshalb konnte die Psychoanalyse über lange Zeit wenig Zugang zu der Bedeutung von Religiosität und Spiritualität entwickeln. Romain Rolland, ein mit Freud befreundeter Schriftsteller, machte den Begründer der Psychoanalyse darauf aufmerksam, dass er sich der Religiosität im eigentlichen Sinne nicht zugewandt habe: Religion sei ein Gefühl des unbegrenzt Schrankenlosen, des Ozeanischen. Freud konnte eingestehen, dass ihm der Sinn dafür fehlte.

Damit weist der Schriftsteller auf eine Dimension des Ich hin, die über die Grenzen des Nachvollziehbaren hinausgeht. Diese Dimension wird häufig erst in der Depression spürbar, wenn das Sicherheitsgefühl des „zu einem Ganzen Gehörens“ verloren geht. Spiritualität ist die Verbindung von der Realität zur Transzendenz und dem Unerklärbaren am Ende der weltlichen Existenz. Mit philosophischem oder religiösem Inhalt gefüllte Spiritualität führt das Kontinuum des Lebens über die Zeit hinaus.

Spiritualität schafft Kriterien für die Sicherung der eigenen psychischen Existenz

In der analytischen Psychologie von Carl Gustav Jung wird die Psychotherapie als Wandlung des Sterblichen in ein Unsterbliches im Menschen bezeichnet. Viktor Frankl formuliert: „Der Mensch ist auch nur Mensch in dem Maße, als er sich von der Transzendenz her versteht. Er ist nur in dem Maße Person, als er von ihr durchtönt wird: durchtönt vom Anruf der Transzendenz, vom Anruf Gottes.“

Spiritualität ist deshalb nicht eine dem Über-Ich zuzuschreibende Komponente, sondern das aus dem Erlebten entstandene Grundgerüst des Selbst mit einem Welt- und Menschenbild, aus dem das Individuum seine Kriterien für die Beurteilung der Welt bezieht. Diese Weltsicht generiert sich aus einer nicht zu ambivalenten Grundhaltung der beziehungskonstanten Bezugspersonen, deren konsistentes Bild von Werden und Sein als umfassende Repräsentanz integriert werden konnte.

Die von Freud beschriebene pathologische Religiosität begegnet uns als sadistisches Introjekt (= ohne echte Identifikation angenommene innere Vorstellung) ebenfalls in unseren Therapien. Häufiger aber finden wir besonders unter den suchtkranken Patienten eine weitgehende Abwesenheit des Gefühls und des Erlebens einer inneren Heimat, die Kriterien für die Sicherung der eigenen psychischen Existenz zur Verfügung stellen würde. Hier dominiert oft ein rigides Über-Ich mit polarisierenden Wertungen, in denen die Kategorien der Verantwortlichkeit nur rudimentär, reduziert auf die Frage nach Schuld oder Nichtschuld vorkommen.

Wir finden bei Menschen ohne ethisch nachvollziehbare Weltanschauung häufig das Phänomen, dass sie sich in ihrer frühen Sozialisationen nicht angenommen fühlten. „Der Glanz in den Augen der Mutter“ (Kohut) scheint für die Entwicklung der Spiritualität von Bedeutung zu sein. Ein sicher geerdetes Ich kann die hinter der konkretistischen Weltsicht lebende Transzendenz erkennen und im Jetzt und Hier spüren.

Damit verbunden ist ein erleichterter Zugang zum inneren Erleben über emotional getönte Rituale wie Gebete und Gesang mit Gleichgesinnten. Die Gewissheiten des durch die Integrität geschützten Ich können so erhalten und im Krisenfall geschützt werden. Diese protektive Wirkung der Weltanschauung ist relativ unabhängig von deren Inhalt, wenn dieser nicht durch sadistische Vorbilder geprägt ist. Wichtiger als der Inhalt der Weltanschauung ist die Passform zum individuellen Ich.

Spiritualität im psychotherapeutischen Feld

Für die Arbeit mit psychisch kranken Menschen ist deshalb die Erkundung spiritueller Reste, welche nicht pathologisiert sind, ein möglicherweise stabilisierender Wert. Für dieses sensible Thema gibt es bereits Hilfen zur Exploration, die sich auf den Erfahrungshintergrund beziehen. Insbesondere Menschen aus Kulturkreisen mit mystischen Vorstellungen haben unerwartete Ressourcen, wenn sie denn entdeckt werden. Der Umgang mit spiritueller Erfahrung bedarf des besonderen Takts, weil viele Menschen befürchten müssen, dass in einer rationalen Welt wie der westlichen transzendente Inhalte ausschließlich belächelt werden.

Die Aufgabe im psychotherapeutischen Feld ist zunächst die Offenheit für Spiritualität. Erst in einem weiteren Schritt kann darüber nachgedacht werden, wie ein intrapsychisches Gerüst entwickelt werden kann, das spirituelles Erleben als Voraussetzung für die Entwicklung einer tragenden Weltanschauung ermöglicht.

Psychotherapie ist aus Gründen der therapeutischen Abstinenz nicht für die Inhalte von Religiosität und Spiritualität verantwortlich, sondern hat sich ausgesprochen zurückhaltend zu verhalten. Bei sonst distanzierter Äußerung zu privaten Fragen, wie etwa dem Urlaubsziel, gibt es offenbar einen inneren Drang zur Äußerung der eigenen Weltanschauung, wenn sie bewusst ist. Mit dem Wissen um die Idealisierung des Therapeuten scheint auch hier die therapeutische Abstinenz die angemessene Reaktion zu sein, um pathologische Introjekte zu vermeiden.

Es ist eine Tugend christlicher Kultur, das Verhältnis des Mitmenschen zu Gott deren beider Angelegenheit sein zu lassen. Spiritualität ist also keine therapeutische Modeerscheinung, sondern eine bisher oft nicht gewürdigte mögliche Dimension des Selbst, die Ressourcen für die Resilienz enthält.

Literatur beim Verfasser

Weiterführende Literatur:
  • Wilfried Ruff (Hg.): Religiöses Erleben verstehen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, ISBN 3-525-61405-5
  • Michael Utsch, Raphael M. Bonelli, Samuel Pfeifer (Hg.): Psychotherapie und Spiritualität. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg 2014, ISBN 978-3-642-02552-8
Kontakt:

Dr. Andreas Dieckmann
Brüderstraße 38
13595 Berlin
dr.a.dieckmann@gmx.de
www.psychotherapiedieckmann.de

Angaben zum Autor:

Dr. Andreas Dieckmann ist Ärztlicher Psychotherapeut in freier Praxis und Sprecher der Dozenten der Suchttherapeutenausbildung/psychoanalytisch orientiert beim GVS. Er war langjähriger Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum, Berlin.