Mathias Speich

Public Health in der Suchthilfe und Suchtprävention

Mathias Speich

Public Health gilt in vielen Bereichen der modernen Arbeit im Gesundheitswesen als „der“ Lösungsansatz. Doch woher kommt dieser Gedanke und warum ist er auch für die Suchthilfe entscheidend? Ist dieser Ansatz wirklich neu? Um es vorwegzunehmen: nicht neu, aber interessant. Und er erklärt, warum aktuelle Entwicklungen die Qualität der Suchthilfe und Suchtprävention gefährden könnten. Natürlich kann in einem relativ kurzen Artikel wie diesem kein Anspruch auf Vollständigkeit bestehen. Aber vielleicht macht er ein wenig neugierig und lädt zum Diskutieren ein: über das Thema öffentliches Gesundheitswesen, die Sichtweise der Weltgesundheitsorganisation, bestehende Strukturen und die sich daraus ergebenden Chancen.

Perspektivwechsel

Die Suchthilfe und Suchtprävention in Deutschland ist in vielen Bereichen, vermutlich ohne ihr Wissen, ein schönes Beispiel dafür, wie der Grundgedanke von Public Health in den Praxisalltag des Sozial- und Gesundheitssystems Einzug gehalten hat. Die Suchthilfe mit all ihren Facetten ist ein Tätigkeitsfeld, welches seit Jahren die „öffentliche Gesundheit“ prägt. Viele Faktoren, die Public Health ausmachen, werden hier gelebt. Vereinfacht dargestellt versucht der Public Health-Ansatz, den Erhalt der Gesundheit in den Vordergrund zu rücken, wohingegen die Medizin das Erkennen und die Behandlung einer Krankheit in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt.

Dies ist ein relativ einfacher Perspektivwechsel, der aber einige Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Public Health bezieht sich dabei auf die Definition von Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Diese hat bereits im Jahr 1948 ihre Sichtweise auf das Thema Gesundheit deutlich erweitert. Damals und auch mit Blick auf die verheerende Geschichte musste man anerkennen, dass es neben den medizinischen und biologischen Faktoren deutlich mehr Einflüsse gibt, die zum Erhalt der Gesundheit und zum Entstehen von Erkrankungen beitragen. Umweltbedingungen, die soziale Lebenswelt, der Lebensstil und die Zugänge zu einem funktionierenden Gesundheitssystem gehören beispielsweise primär dazu.

Es blieb nicht bei der Definition der WHO, denn die daraus gefolgerten Zusammenhänge zwischen Lebenswelt und Gesundheit führten im Jahr 1986 zur Ottawa-Charta. Darin wird Gesundheitsförderung als Prozess definiert, der Menschen befähigt, ihre Gesundheit zu verbessern und mehr Kontrolle darüber zu erlangen. In der Charta wird deutlich, dass Gesundheit ganzheitlich zu betrachten ist. Sie entsteht in einem partizipativen Prozess zwischen den Menschen und dem Sozial- und Gesundheitssystem. Politik hat den Auftrag, diesen Raum zu gestalten, wozu viele professionelle und interdisziplinäre Ansätze benötigt werden. Dabei werden individuelle, aber auch soziale und ökologische Faktoren berücksichtigt. Deutschland hat sich den Zielen der Ottawa-Charta angeschlossen (vgl. Kaba-Schönstein, 2018), und das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) versuchte, diese bis Ende 2023 auch umzusetzen (vgl. Deutscher Bundestag, 2021). Die Formulierung von Gesundheitszielen, eine interdisziplinäre Gesundheitsförderung, Aktionspläne der Länder und Kommunen sowie Forschung und die Evaluation von Maßnahmen beruhen auf dieser Charta und ließen Hoffnung aufkommen. Viele Professionen konnten seitdem aus ihrer Perspektive das Thema Gesundheit erforschen, Erkenntnisse gewinnen und das Gesundheitssystem stetig weiterentwickeln.

Ein Baustein von vielen

Die WHO setzte mit ihrem erweiterten Blickwinkel deutlich früher an, als eine einzelne Profession das gekonnt hätte. Sie „beschränkte“ sich dabei nicht mehr auf die Behandlung einzelner Erkrankungen und ihrer Symptome. Nur um Missverständnisse zu vermeiden: Das Erkennen und Behandeln von Erkrankungen ist eine große Wissenschaft und genießt zu Recht höchste Anerkennung. Im gesamten Gesundheitswesen ist die Medizin aber ein Baustein von vielen. Es zeigte sich, dass ein interdisziplinärer Ansatz deutlich effektiver war. Wenn im Fachbereich Public Health von Gesundheit gesprochen wird, geht es um die Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen und Professionen auf Augenhöhe. Die Suchthilfe praktiziert dies in vielen Bereichen schon seit Jahrzehnten. Exemplarisch seien an dieser Stelle die Fachbereiche Soziale Arbeit, Pflege, Pädagogik, Therapie, Medizin, aber auch Pharmakologie erwähnt, die gut ineinandergreifen. Über viele Jahre hinweg wurde unter Beteiligung einer Reihe von Professionen (und vor allem durch die Partizipation der Betroffenen) ein vielseitiges professionelles und ehrenamtliches Hilfesystem aufgebaut und stetig weiterentwickelt. Natürlich ist dies weiterhin deutlich ausbaufähig, und allein der Blick auf die aktuelle Zahl der Drogentoten und die sich stark verändernden Konsumgewohnheiten zeigt, dass sich dieses System in einem dauerhaften Wandel befindet und befinden muss. Ohne dieses interdisziplinäre Hilfesystem würden viele Veränderungen viel zu spät erkannt.

Erhalt von Lebensqualität

Der Perspektivwechsel stellt nicht nur die Gesundheit in den Vordergrund, sondern definiert auch neue Ziele. Eines davon ist der Erhalt und im besten Falle auch die Steigerung der Lebensqualität trotz bzw. mit einer bestehenden Erkrankung. Der Suchthilfe ist dieser „akzeptierende“ Gedanke durchaus bekannt. Trotz einer Diagnose geht das Leben in den meisten Fällen glücklicherweise weiter, aber wie geht man mit dieser Einschränkung um? Ab wann gilt ein Mensch als „krank“, ab wann als „gesund“? Circa 40 Prozent (vgl. Stiftung Gesundheitswissen, 2022) aller Deutschen leben mit einer chronischen Erkrankung, die wenigsten von ihnen werden sich im Alltag als dauerhaft „krank“ bezeichnen. Vor allem Leser:innen mit „mehr Lebenserfahrung“ werden dies gut nachvollziehen können. Das subjektive Empfinden bei vielen Erkrankungen ist, dass diese zwar als störend und unangenehm wahrgenommen werden, viele Menschen es aber schaffen, dies im Alltag zu kompensieren. Vor allem die Stärkung der positiven Faktoren reduziert die Wahrnehmung der Beeinträchtigung deutlich. Dies ist selbstverständlich immer abhängig von der Art und Schwere der Erkrankung. Aber auch bei schwerstkranken Menschen trägt jede einzelne Minute, in der die Erkrankung ihre Dominanz verliert, positiv zur subjektiven Lebensqualität bei. Deutlich sollte werden: Es gibt einen gestaltbaren Raum zwischen „krank“ oder „gesund“. Wie ein Mensch seine gesundheitliche Situation erlebt, ist sehr individuell und temporär bedingt.

Da die Lebensqualität subjektiv wahrgenommen wird, liegt es an den betroffenen Menschen selbst, diese auch zu definieren. Selbst wenn eine Person sehr schwer erkrankt ist, bestimmt sie das Ziel, die Geschwindigkeit und die damit verbundenen Hilfen. Der Ansatz von Public Health besteht darin, die vielen Einflussfaktoren zu identifizieren und mit den Betroffenen selbst Strategien zu entwickeln, das Positive zu stärken und die negativen Auswirkungen zu reduzieren. In der Suchthilfe wird dies seit Jahren unter dem Begriff Akzeptanzorientierung und Harm Reduction praktiziert, gleichzeitig bleibt die Möglichkeit einer medizinischen Behandlung bestehen. Das entlastet die betroffenen Menschen und eröffnet neue Möglichkeiten. Denn gleichzeitig können nun auch die Beratungs- und therapeutischen Angebote der Suchthilfe versuchen, mit den Betroffenen gemeinsam die Konsumanlässe zu reduzieren. Drohender Wohnungsverlust, Schulden, bestehende Strafverfahren, Konflikte in der Familie – es gibt viele Auslöser für einen unkontrollierten Konsum. Vom Erkennen eines Problems bis zur Lösung und deren Aufrechterhaltung (vgl. Transtheoretisches Modell der Veränderung, TTM) ist es ein weiter Weg. Hier zeigt sich, wie wichtig dieser interdisziplinäre Gedanke ist.

Prävention und Salutogenese

Betrachtet man Public Health allgemein in Bezug auf die Gesellschaft, so steht natürlich die Vermeidung von Erkrankungen, die Förderung und letztendlich der Erhalt der Gesundheit im Fokus. Das gilt besonders für Suchterkrankungen. Sie haben eine enorm hohe Morbiditäts- und Mortalitätsrate. Alkohol, Nikotin und andere psychoaktive Substanzen lösen nachweislich schwere Erkrankungen aus. Dazu gehören beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Infektionskrankheiten, Krebs, psychische Störungen u.v.a. Die Liste ist lang, die Fallzahlen sind hoch, und für die Suchthilfe ist es keine neue Erkenntnis.

Für die Prävention stellt sich die Frage, wie die vielen Formen potenzieller Schädigungen vermieden werden können. Ein einfacher Hinweis auf den Verzicht ist in einer Konsumgesellschaft bei Weitem nicht ausreichend. Dem Konzept der Salutogenese (vgl. Faltermaier, 2023) entsprechend richtet der Public Health-Ansatz auch hier den Fokus auf den Erhalt der Gesundheit und nicht auf eine der vielen potenziell möglichen schweren Erkrankung, die in einen Zeitraum von vielen Jahren auftreten können. Aus der Perspektive vieler Kinder und Jugendlicher ist eine Gefahr in ferner Zukunft kaum greifbar. Neue Präventionsansätze gehen deshalb gezielt auf Zielgruppen zu und versuchen, mit ihnen gemeinsam Bewältigungsstrategien zu entwickeln, um beispielweise mit Stressoren besser umgehen zu können. Anstatt sich auf zukünftige Risiken zu konzentrieren, werden Ressourcen und Stärken von Individuen und Gemeinschaften in den Mittelpunkt gestellt. Das Ziel ist u. a., das Kohärenzgefühl und die Selbstwirksamkeit junger Menschen zu stärken, damit eine Suchterkrankung und die sich daraus ergebenden sozialen und gesundheitlichen Folgeschäden nach Möglichkeit vermieden werden. Moderne Präventionsprojekte wie beispielweise MOVE, FreD und HaLT basieren fast alle auf diesem Ansatz.

Unterschiedliche Präventionsansätze für unterschiedliche Zielgruppen

Neben der Verschiebung der Perspektive wurden auch die Zielgruppen präziser gefasst. Klaus Hurrelmann unterteilte schon vor vielen Jahren in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. Heute wird bevorzugt von universeller, selektiver und indizierter Prävention gesprochen. Wie werden Zielgruppen angesprochen, in welchem Alter, mit welchen Hintergrund, wann und wo? Wir wissen, dass schlecht gemachte Informationskampagnen auch Schaden anrichten können. Vor allem bei der Primärprävention besteht ein schmaler Grat zwischen Informationskampagne und Neugierig-Machen. Nicht ohne Grund gibt es mittlerweile Suchtpräventionsfachkräfte, die mit pädagogischen Interventionen und Sozialer Arbeit Zielgruppen und Risikofaktoren identifizieren und geeignete Maßnahmen bereitstellen. Dabei ist bei vielen erfolgreichen Projekten ein Methodenmix z. B. aus den Bereichen der Pädagogik, Sozialen Arbeit und der Psychologie entstanden.

Nicht nur die Verhaltensprävention wurde in den letzten Jahrzehnten deutlich präzisiert, auch wurde der Bereich der Verhältnisprävention gestärkt. Die soziale Umwelt hat einen massiven Effekt auf die Entstehung einer Suchterkrankung. Die Steuererhöhung bei den Alkopops und der erschwerte Zugang zu Nikotin zeigten deutliche Effekte, auch bei Kindern und Jugendlichen. Die Möglichkeiten, hier mit wenigen Veränderungen viel zu bewegen, sind enorm. Dabei geht es nicht um Prohibition, was gerne unterstellt wird, sondern um den gezielten Schutz von vulnerablen Gruppen. Die sinkenden Fallzahlen bei Alkohol- und Nikotinkonsum bei Kindern und Jugendlichen machen Hoffnung (vgl. Alkoholsurvey der BZgA 2022 und Drogenaffinitätsstudie der BZgA 2023). Gleiche Effekte über gezielte Verhaltensprävention zu erreichen, wäre mit den bestehenden Ressourcen praktisch unmöglich.

Aktuelle Entwicklungen führen in die Vergangenheit

Umso spannender wurde es Ende 2023, als aus dem BMG ein erster Arbeitsentwurf zur Errichtung eines Bundesinstituts mit Schwerpunkt Prävention auftauchte. Durch den Koalitionsvertrag war bekannt, dass Veränderungen kommen würden. Hier wurde das neue Institut als „Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit“ bezeichnet, mit direktem Bezug zu Aktivitäten im Public Health-Bereich (vgl. „Mehr Fortschritt wagen“, Koalitionsvertrag 2021–2025, S. 65). Dieser Prozess war im Vorfeld relativ still verlaufen, und grundsätzlich gab es gegen mehr Prävention und Public Health in Deutschland keine Einwände. Die durch das BMG schließlich erfolgte Namensgebung „Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ (BIPAM) überraschte jedoch und ließ Zweifel aufkommen, denn der Schwerpunkt wurde nun auf eine einzige Profession gelegt. Der Widerspruch zum oben beschriebenen Gesundheitsbegriff und Präventionsansatz liegt schon im Titel. Dennoch sparte man bei der öffentlichen Ankündigung nicht mit Schlagwörtern wie „Public Health“, „interdisziplinär“ und „Primärprävention“. Dem Beauftragten für die Errichtung des „Bundesinstituts für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ wurde zudem die Leitung der BZgA übertragen (vgl. Interview mit Dr. Johannes Nießen auf KONTUREN online). Es ist anzunehmen, dass dies deutliche Auswirkungen auf die bisherige mehrdimensionale Sichtweise von Gesundheit haben wird.

Die Fachöffentlichkeit reagierte darauf mit einem offenen Brief an Bundesgesundheitsminister Lauterbach, den fachübergreifend über 150 Organisationen und Professionen aus Praxis, Wissenschaft und Forschung unterzeichneten. Darin begrüßen sie die Gründung eines zentralen Instituts für öffentliche Gesundheit ausdrücklich, fordern aber eine andere Strategie, „eine ganzheitliche, krankheitsübergreifende, an einem dynamischen Verständnis von Gesundheit und Wohlbefinden ausgerichtete Strategie, die […] eine Institution befähigt, in dynamischen, komplexen Systemen zu denken und zu handeln und die sich daher nicht auf medizinische Sachverhalte beschränkten darf.“ (Götz & Rosenbrock, 2023, S. 3) Die bisherige Reaktion des BMG ist überschaubar.

Eigentlich könnte man mit guten Gewissen auf die Suchthilfe als Vorbild verweisen. Das bio-psycho-soziale Modell wird in der Praxis seit vielen Jahren professionsübergreifend gelebt. Als problematisch stellt sich aber die Vielzahl der Kostenträger im deutschen Gesundheitssystem und der Suchthilfe mit ihren unterschiedlichen Zuständigkeiten und Qualitätskriterien heraus. Dazu gehört auch die zunehmende Fokussierung auf evidenzbasierte Medizin (EbM). Während EbM in der medizinischen Behandlung und Forschung als Gold-Standard gehandelt wird, greift sie bei der Bewertung von Maßnahmen im Bereich der sozialen Gesundheit zu kurz, da pädagogische und therapeutische Interventionen nur sehr aufwendig quantitativ zu messen sind. Statistisch ist dies zwar möglich, aber um wirklich (hoch) signifikante Aussagen treffen zu können, ist der Forschungsaufwand um ein Vielfaches höher. Das beinhaltet die Gefahr, dass Projekte oder neue Arbeitsansätze allein aufgrund des deutlich höheren Aufwandes bei der Evaluation bei der notwendigen Förderung oder anschließenden Refinanzierung weniger Beachtung finden. In Erinnerung sollte aber auch gebracht werden, dass die sehr gute Methode der evidenzbasierten Medizin in der Form vermutlich nie für diesen breiten professionsübergreifenden Einsatz vorgesehen war.

Die Suchthilfe hat aber mit dem Deutschen Kerndatensatz (KDS) ein interessantes Evaluationstool als Ass im Ärmel. Dieser wird aktuell angepasst und könnte vor allem aus dem Blickwinkel von Public Health viele Potenziale beinhalten. Optimierungsbedarf besteht aktuell noch in der Unterscheidung der einzelnen Arbeitsgebiete. So wird im KDS primär von Behandlung und Betreuung gesprochen, obwohl die ambulante Suchthilfe mit großem Abstand die meisten Fallzahlen in der Beratung (vgl. Schwarzkopf et al., 2023, Abbildung 1., S. 9) vorweist (ca. 68 Prozent; vgl. Martens & Neumann-Runde, 2023, Abbildung 2, S. 18). Diagnosen, die in der stationären Suchthilfe und Therapie eine zentrale Rolle spielen, sind in der ambulanten Beratung weniger relevant (ca. 5 Prozent aller Mitarbeitenden der ambulanten Suchthilfe verfügen über eine entsprechende Qualifikation; vgl. Martens & Neumann-Runde, 2023, Abbildung 2, S. 18) und in der Suchtprävention kaum von Bedeutung. Zurzeit wird noch wenig deutlich, dass je nach Setting der Kontakt zu den Klient:innen zwischen Tagen und Jahren beträgt. Auch ist der KDS bisher wenig dynamisch in der Erfassung von Beratungs- und Behandlungsverläufen. Die zunehmende Digitalisierung der Suchthilfe und auch die Möglichkeiten der Verarbeitung beinhaltet große Potenziale. Mit dem KDS steht ein flächendeckendes gutes Instrument zur Verfügung, welches nur an die aktuellen Gegebenheiten angepasst werden muss.

Im Sinne von Public Health und der Ottawa-Charta sollte zukünftig aber ein sehr großes Interesse darin bestehen, die geleistete Arbeit professionsübergreifend zu begleiten und zu bewerten. Immerhin geht es hier um die Entwicklung von passenden kurz-, mittel- und langfristigen bio-psycho-sozialen Angeboten für die betroffenen Menschen. Die Datengrundlage dient an entscheidenden Stellen als Argument in Verhandlungen zu Förderung und Forschung, und natürlich werden hier Impulse für die Verwaltung und Politik gesetzt (siehe Ottawa-Charta). Ganz direkt geht es auch um Definitionshoheiten und um die Verteilung von knappen Ressourcen (vgl. Notruf Suchtberatung, 2019).

Doch bei aller – konstruktiv gemeinter – Kritik: Es sind Feinheiten, die es zukünftig zu optimieren gilt. Die Suchthilfe ist mit der Deutschen Suchthilfestatistik und vielen evaluierten Projekten in der Lage, schon jetzt die Betroffenen und die Wirksamkeit der Hilfen wissenschaftlich evaluiert sichtbar zu machen (vgl. Deutsche Suchthilfestatistik (DSHS)). Damit sind die Suchthilfe und Suchtprävention vielen anderen Bereichen im Sozial- und Gesundheitswesen weit voraus.

Fazit

Abschließend: Der Public Health-Ansatz hatte sich in den letzten Jahrzenten bewusst oder unbewusst als gute, konstruktive Perspektive im Gesundheitssystem, der Suchthilfe und Suchtprävention herausgestellt. Die interdisziplinäre Sichtweise und der Perspektivwechsel eröffneten im Praxisalltag neue Ideen, die unterschiedlichen Positionen und Professionen ergänzen sich gegenseitig. Dass das in der Suchthilfe und Suchtprävention nicht immer nur ein „harmonieorientierter“ Diskurs war und ist, weiß jeder/jede, der/die schon länger in dem Bereich tätig ist. Veränderung ist auch hier ein Prozess. Dennoch, es zählt das Ergebnis: Die Lebensqualität von vielen betroffenen Menschen hat sich verbessert, die Suchtprävention hat sich deutlich weiterentwickelt und erreicht in höherem Maße und präziser ihre Zielgruppen. Das gute Netzwerk der ehrenamtlichen und professionellen Suchthilfe ist in der Lage, schnell auf Veränderungen in der Suchtmittelszene zu reagieren. Das BMG kann man nur ermutigen, nicht nur über Public Health zu reden, sondern es vor dem Hintergrund der vielen nationalen und internationalen positiven Erfahrungen der letzten Jahrzehnte im Sinne der WHO konsequenter umzusetzen.

Die hier vertretenen Auffassungen geben die Meinung des Verfassers wieder und entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion.

Kontakt:

Mathias Speich
Der Paritätische NRW
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33332 Gütersloh
Speich(at)paritaet-nrw.org

Angaben zum Autor:

Mathias Speich: Master of Public Health, Dipl.-Sozial- und Umweltpädagoge. Seit über 20 Jahren aktiv in der Suchthilfe und Suchtprävention. Fachreferent der Suchthilfe und der Hilfen nach § 67 SGB XII des Paritätischen NRW. Mitglied im Arbeitsausschuss Drogen und Sucht NRW, im Beirat der Suchtkooperation NRW, im Fachausschuss Gefährdetenhilfe und aktiv in vielen weiteren kleinen und großen engagierten Gremien der Suchthilfe, landes- und bundesweit.

Literatur: