Knut Kiepe, Dr. Kai W. Müller

Die Pandemie als „Brandbeschleuniger“ für Internetnutzungsstörungen?

Dr. Kai W. Müller

Knut Kiepe

Für viele Menschen scheint es nur allzu klar, dass die bereits mehr als ein Jahr währende Corona-Pandemie in Bezug auf die Internetnutzung deutliche Spuren hinterlässt und zu einer signifikant höheren Anzahl an internetbasierten Schädigungen – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen – führt. „Höhere Internetnutzung gleich mehr Störungen“ ist aber eine zu einfache Formel: Was wir brauchen, ist ein differenzierter Blick – vor allem auf die psychischen Belastungen und ihre Hintergründe. Dies gilt besonders in Zeiten der Pandemie, aber auch generell im Rahmen der Digitalisierung.

Als wichtige Grundlage und zum besseren Verständnis ist es hilfreich, den historischen Hintergrund zur Diagnostik zu kennen. Der Fachverband Medienabhängigkeit e.V. setzt sich seit 2008 für die Anerkennung von „Internetnutzungsstörungen“ als psychische Erkrankung ein. 

Der Weg zur Anerkennung

Bereits im Jahre 2013 entschied die American Psychiatric Association, die so genannte Internet Gaming Disorder zumindest als Forschungsdiagnose in den Anhang des DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Version) aufzunehmen. Dem vergleichsweise neuen (jedoch aus klinischer Sicht überaus relevanten) Phänomen wurde damit erstmalig und offiziell der Staus einer Problematik mit Gesundheitsrelevanz zuerkannt.

Etwa sechs Jahre später folgte der nächste und womöglich noch wichtigere Schritt: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verkündete, das bisherige ICD-Kapitel der Substanzabhängigkeiten um den Aspekt der „abhängigen Verhaltensweisen“ (Verhaltenssüchte) zu erweitern und in diesem Zuge auch die „Störung durch Computerspielen“ als eigenständige psychische Erkrankung zu führen. Neben diesem neuen (direkt benannten) Diagnoseschlüssel bietet das ab 2022 gültige ICD-11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 11. Version) nun die Möglichkeit, weitere Verhaltenssüchte und somit auch weitere differenzierbare Internetnutzungsstörungen zu verschlüsseln. In einem aktuellen Vorschlag werden hier insbesondere die Subformen der Online-Pornographie-Nutzungsstörung, der Online-Shoppingstörung und der Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung als relevante Formen benannt (Rumpf et al., 2021).

Dysfunktional, suchtartig, exzessiv – viele Bezeichnungen für ein Phänomen

Doch was genau verbirgt sich hinter dem Begriff Internetnutzungsstörung eigentlich? Zunächst als Phänomen geführt, wurde seit der erstmaligen Dokumentation Mitte der 1990er Jahre eine Vielzahl von inhaltlich mehr oder weniger synonym gebrauchten Bezeichnungen für das diagnostisch noch nicht verortete Störungsbild verwendet – von pathologisch-dysfunktionalem PC-Gebrauch über Internetsucht und Medienabhängigkeit bis hin zur heutigen Internetnutzungsstörung.

Unabhängig vom konkret benutzten Begriff gilt für alle Bezeichnungen, dass sie als Oberbegriffe zu verstehen sind und dass der PC, das Internet oder gar die Medien an sich nicht als „Suchtmittel“ in einem direkten Zusammenhang mit einem Abhängigkeitsgeschehen stehen. Vielmehr sind es die einzelnen (zumeist) online durchgeführten Aktivitäten (und damit das Verhalten), welche unter bestimmten Voraussetzungen eine exzessive und unkontrollierte Nutzung im Sinne eines Abhängigkeitsgeschehens hervorrufen können.

Aus den verfügbaren epidemiologischen Studien an repräsentativen Stichproben der Allgemeinbevölkerung und bestätigt durch Zahlen von Nutzern des Hilfesystems wissen wir, dass es vor allem bestimmte internetbasierte Computerspiele sind, die besonders häufig mit einem suchtartigen Konsum im Zusammenhang stehen. Aus diesem Grunde wurde gerade die „Störung durch Computerspielen“ als einzige Variante der Internetnutzungsstörungen im ICD-11 konkret aufgeführt. Gekennzeichnet ist das Störungsbild durch folgende drei diagnostische Kriterien:

  1. Kontrollverlust über das Nutzungsverhalten
  2. Bedeutungserhöhung bzw. Priorisierung der Nutzung, wodurch andere Lebensbereiche (Freizeitverhalten und Alltagsaktivitäten) beeinträchtigt oder verdrängt werden
  3. Fortführung der Nutzung trotz der dadurch entstehenden negativen Folgeerscheinungen

Ergänzt wird die diagnostische Definition von einer mit den Kriterien einhergehenden Beeinträchtigung des psychosozialen Funktionsniveaus. Damit ist gemeint, dass Betroffene psychische Belastungssymptome entwickeln sowie Probleme im sozialen und leistungsbezogenen Kontext wie etwa Schule oder Beruf erleben.

Auch auf die in der Bevölkerung seltener auftretenden Varianten von Internetnutzungsstörungen, beispielsweise im Zusammenhang mit der Nutzung von sozialen Netzwerken, Online-Pornographie oder Einkaufsportalen, werden die vorgenannten Kriterien angewandt, so dass sich für alle Internetnutzungsstörungen ein einheitlicher diagnostischer Rahmen ergibt.

Die vorliegende epidemiologische Forschung zur Verbreitung von Internetnutzungsstörungen weist mit großer Übereinstimmung aus, dass Jugendliche und junge Erwachsene deutlich häufiger betroffen sind als ältere Personen. Die ermittelten Prävalenzraten der einzelnen Studien unterscheiden sich zwar leicht, liegen aber bei etwa vier Prozent für Jugendliche und junge Erwachsene, welche die Kriterien einer Internetnutzungsstörung erfüllen, und bei nochmals etwa vier Prozent für Jugendliche und junge Erwachsene, die ein zumindest problematisches Nutzungsverhalten aufweisen (hier sind also zumindest einige Kriterien einer Störung feststellbar). Bedenkt man, dass in den Studien ebenfalls mit großer Übereinstimmung eine merklich höhere Belastung der Betroffenen durch weitere psychosoziale und psychopathologische Symptome (z. B. erhöhte Depressivität, Verhaltensauffälligkeiten und Angstsymptome) festgestellt wird, ergibt sich ein deutlicher Handlungsbedarf. Dieser schließt nicht nur die Behandlung, sondern in besonderem Maße auch die Frühintervention ein. Für Maßnahmen zu einem frühen Zeitpunkt der Problementwicklung ist ein entsprechendes Früherkennungssystem notwendig. Ebenso bedarf es einer zielgruppenspezifischen Prävention – hier sollte eine Ausweitung und Überprüfung der vorliegenden Konzepte vorgenommen werden. 

Der Einfluss der Pandemie auf die Fallzahlen

Die Entstehung von Internetnutzungsstörungen folgt also nach gegenwärtigem Kenntnisstand komplexen Mechanismen. Die Annahme, dass allein die verstärkte Nutzung von Internetangeboten wie bestimmten Computerspielen oder sozialen Netzwerken ein komplexes Abhängigkeitsgeschehen bedingt, ist mit Sicherheit zu kurz gedacht. Bekannt ist, dass vor allem junge Menschen sehr empfindlich auf sich verändernde Rahmenbedingungen und den Wegfall von Strukturen reagieren. Die Pandemie könnte – mit ihren erhöhten und zum Teil dauerhaften psychischen Belastungen – somit als „Brandbeschleuniger“ wirken und zunehmende Internetnutzungsstörungen bzw. deren höhere Prävalenz begründen.

Die mittlerweile formulierten Störungsmodelle wie etwa das Interaction of Person-Affect-Cognition-Execution Modell (Brand et al. 2016) oder das Integrative Prozessmodell der Internetsucht (Müller et al., 2016) gehen von einem komplexen Wechselspiel aus individuellen Prädispositionen, wirksamen Strukturmerkmalen der kritischen Internetaktivität und Einflüssen der sozialen Lebenswelt des Individuums aus. In der gegenwärtigen Corona-Pandemie sind insbesondere die Beziehungen zwischen den individuellen Risikofaktoren und der aktuellen sozialen Situation von hoher Bedeutung.

Verschiedene Berufsverbände und Institutionen wie jüngst die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina haben darauf hingewiesen, dass die indirekten Auswirkungen der Corona-Pandemie gerade junge Bevölkerungsschichten stark beanspruchen und deutliche Effekte auf ihre psychische Gesundheit ausüben. Einige Forschungsdaten speziell zu Internetnutzungsstörungen, auch wenn sie die Problematik noch nicht über einen ausreichend langen Zeitraum abbilden können, erhärten die Vermutung, dass die Pandemie zu einer nochmals stärkeren Verbreitung des Störungsbildes beitragen kann (z. B. Paschke et al., 2021; Bilke-Hentsch et al., 2020; Rumpf et al., 2020).

In der ambulanten Beratungspraxis werden unter anderen folgende Symptome in Verbindung mit problematischer Internetnutzung häufig berichtet:

  1. Müdigkeit, Unkonzentriertheit, Reizbarkeit
  2. starke Leistungsschwankungen oder Leistungsabfall (vor allem in Schule und Ausbildung)
  3. Stimmungsschwankungen und Antriebslosigkeit
  4. physische Beeinträchtigungen bzw. körperliche und psychosomatische Beschwerden (bspw. Kopf- und Gliederschmerzen, Haltungsschäden, Schlafstörungen)
  5. allgemeiner Rückzug

Ein hoher Grad an Online-Beschulung, das Wegfallen von realen Sozialkontakten und fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten könnten diese bekannten Effekte in den bisher erlebten Lockdown-Phasen noch verstärkt haben. Erste, bislang jedoch unveröffentlichte Zahlen aus dem ambulanten Versorgungssystem weisen auf einen merklichen Anstieg der entsprechenden Nutzung des Hilfesystems wegen exzessiven Mediennutzungsverhaltens hin. Auch auf theoretischer Ebene unter Bezugnahme auf die oben genannten Störungsmodelle ist diese Entwicklung plausibel.

Sowohl Praxis als auch Empirie bestätigen daher die Relevanz folgender Einflussfaktoren, die vor allem Kinder, Jugendliche und auch junge Erwachsene in der Zeit der Pandemie betreffen:

  1. Wesentliche Ressourcen brechen weg (z. B. Freizeitaktivitäten, direkter Kontakt zum Freundeskreis).
  2. Gesellschaftliche Sicherheit wird vermisst (z. B. gewohnte soziale Strukturen und Alltagsroutinen).
  3. Unsicherheit und Angst prägen das individuelle und gesamtgesellschaftliche Umfeld.
  4. Das Vertrauen in eine verlässliche Umwelt fehlt (unsichere Zukunftsperspektiven und erlebter Kontrollverlust).

Diese vier Erkenntnisse sind von hoher Bedeutung und dürfen nicht ignoriert werden, sofern wir nicht nachhaltig negative Folgen für unsere Gesellschaft und im Besonderen für die nachkommenden Generationen in Kauf nehmen wollen. Von daher fordern Berufsverbände und auch der Fachverband Medienabhängigkeit e.V., dass die psychosozialen Folgen der aktuellen Krise ernst genommen werden und ein Auffangnetz für die vulnerablen Gruppen gespannt wird – gerade jetzt, wo die Pandemie zurückgedrängt scheint. Ein solches Netz muss spezielle und geeignete Angebote für Prävention und Behandlung vorhalten.

Im Rahmen des geforderten und notwendigen Ausbaus der Digitalisierung sollten wir mit Blick auf Kinder und Jugendlichen zwei wichtige Eckpunkte berücksichtigen und in das Auffangnetz einbeziehen:

  1. Wir dürfen (vor allem jüngere) Kinder und Jugendliche nach wie vor nicht mit ihrer Mediennutzung alleine lassen – wir müssen aber auch (gerade von Kindern und Jugendlichen) lernen, virtuelle Angebote und Plätze und deren Funktion sowie Stellenwert besser zu verstehen.
  2. Neben den virtuellen Angeboten müssen wir geeignete reale Anlaufpunkte und Aktivitäten schaffen, ausbauen und stärken, da Digitalisierung diese niemals ersetzen kann.

Der Fachverband Medienabhängigkeit e.V. ist bereit, an einem solchen Netzprojekt mitzuwirken und seine Erfahrungen und Erkenntnisse bezüglich der problematischen Internetnutzung mit einem differenzierten Blick einzubringen.

Kontakt:

Dr. Kai W. Müller
Grüsser Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht
Klinik für Psychosomatische Medizin der Universitätsmedizin Mainz
Untere Zahlbacher Straße 8
55131 Mainz
kai.mueller(at)unimedizin-mainz.de

Angaben zu den Autoren:

Dr. Kai W. Müller, Diplom-Psychologe, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Forschung & Diagnostik an der Grüsser Sinopoli-Ambulanz für Spielsucht an der Klinik für Psychosomatische Medizin der Universitätsmedizin in Mainz. Er ist 1. Vorsitzender des Fachverbandes Medienabhängigkeit e.V.
Knut Kiepe, Diplom-Sozialarbeiter, war über zehn Jahre als Suchtreferent beim Gesamtverband für Suchthilfe e.V. – Fachverband der Diakonie Deutschland (GVS) tätig. Aktuell leitet er die Jugend-, Drogen- und Suchtberatung Mörfelden-Walldorf.

Literatur:
  • Bilke-Hentsch, O., Bachmann, S., Batra, A., Conca, A., Funk, L., Gremaud, F., Jenewein, J., Hentsch, S., Klein, M. Michel, G., Müller, K.W., Müller-Knapp, U., Pezzoli, V., Preuss, U., Rexroth, C., Sevecke, K., Thun-Hohenstein, L., Walter, M., Weber, P., Wladika, W. & Jud, A. (2020). Gibt es ein „Post-corona-Adaptations-Syndrom“? Sollte es „post-Corona“-Interventionen geben? Entwicklungspsychiatrische Überlegungen. Leading Opinions Psychiatrie & Neurologie, 3/4, 6-11.
  • Brand, M., Young, K. S., Laier, C., Wölfling, K. & Potenza, M. N. (2016). Integrating psychological and neurobiological considerations regarding the development and maintenance of specific Internet-use disorders: An Interaction of Person-Affect-Cognition-Execution (I-PACE) model. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 71, 252-266.
  • Müller, K.W., Dreier, M. & Wölfling, K. (2016). Excessive and addictive use of the internet – prevalence, related contents, predictors, and psychological consequences. In L. Reinecke & M.B. Oliver (Eds.), The Roudledge Handbook of Media Use and Well-Being (pp 223-236). New York, Routledge, Taylor and Francis Group.
  • Paschke, K., Austermann, M. I., Simon-Kutscher, K. & Thomasius, R. (2021). Adolescent gaming and social media usage before and during the COVID-19 pandemic. Sucht, 67, 13-22. https://doi.org/10.1024/0939-5911/a000694
  • Rumpf, H.J., Brand, M., Wegmann, E., Montag, C., Müller, A., Wölfling, K., Müller, K., Stark, R., Steins-Löber, S., Hayer, T., Schlossarek, S., Hoffman, H., Lemenager, T., Lindenberg, K., Thomasius, R., Batra, A., Mann, K., te Wild, B., Mößle, T. & Rehbein, F. (2020). Covid-19 Pandemie und Verhaltenssüchte: Erfahrungen, Konsequenzen und Forderungen. Sucht, 66 (4), 212–216.
  • Rumpf, H.J., Batra, A., Bischof, A., Hoch, E., Lindenberg, K., Mann, K., Montag, C., Müller, A., Müller, K.W., Rehbein, F., Stark, R., te Wildt, B., Thomasius, R., Wölfling, K. & Brand, M. (in press). Vereinheitlichung der Bezeichnungen für Verhaltenssüchte. Sucht, in press.