Dr. Peter Raiser

Bundesweite Plattformlösungen für die Digitalisierung der Suchtberatung

Die Digitalisierung der Suchtberatung wird derzeit durch den parallelen Aufbau von zwei Beratungsplattformen vorangetrieben, die bundesweit und trägerübergreifend genutzt werden können. Dabei handelt es sich um die Umsetzung des Konzeptes DigiSucht, das die delphi GmbH entwickelt hat, und den Aufbau der Sozialplattform durch das Land Nordrhein-Westfalen im Rahmen des Onlinezugangsgesetzes. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), in der die allermeisten Verbände der Suchthilfe zusammengeschlossen sind, hat den Entwicklungsprozess der beiden Projekte verfolgt und in Teilbereichen aktiv mitgestaltet. Dr. Peter Raiser, Geschäftsführer der DHS, stellt den aktuellen Umsetzungsstand der beiden Plattformen dar und erläutert Ziele und Hintergründe.

Weiterentwicklung, Sicherung der Qualität und flächendeckendes Angebot

Dr. Peter Raiser

Die zentrale Frage bei der Digitalisierung der Suchtberatung ist, wie die inhaltliche Arbeit durch Anwendung digitaler Instrumente und computergestützter Prozesse begleitet, unterstützt, vereinfacht und verbessert werden kann und dabei die fachlichen Standards und die Qualität der Leistung gesichert bleiben. Neben dieser fachlichen Weiterentwicklung muss geklärt werden, wie Angebote digitalisierter Suchtberatung flächendeckend zur Verfügung gestellt werden können.

Nun ist die Inanspruchnahme digitaler Angebote erst einmal nicht örtlich beschränkt. Der Sitz des Angebotes und der Standort des Servers sind für Hilfesuchende quer durch Deutschland unerheblich – sofern man von einem rein digitalen Angebot ausgeht. Dann wäre ein zentralisiertes Angebot flächendeckend ausreichend, wenn es alle Qualitätskriterien erfüllen und alle Hilfebedarfe abdecken kann und die entsprechende Kapazität hat. Gegen ein zentralisiertes Angebot rein digitaler Suchtberatung sprechen aber inhaltliche und strukturelle Gründe, die in der Angebotslandschaft der nicht digitalen Suchtberatung liegen.

Verknüpfung von digitalem und Face-to-Face-Kontakt

Das so genannte blended counselling zeigt sich gegenüber rein digitalen Angeboten in Beratungsprozessen überlegen (vgl. z. B. Hörrmann et al. 2019). Blended counselling bedeutet, dass Anteile der zu erbringenden Beratungsleistung und Kontakte zwischen Hilfesuchenden und Beratenden auch in nicht digitaler Umgebung stattfinden. Der Face-to-Face-Kontakt wird meist sowohl von Hilfesuchenden wie auch Beratenden gewünscht. Idealerweise werden die Vorteile der Begegnung in realen Beratungssituationen mit den Möglichkeiten digitaler Instrumente ergänzend miteinander verbunden. Das bedingt nun aber auch, dass neben der Inanspruchnahme einer digitalen Beratung die Möglichkeit gegeben sein muss, eine physische Einrichtung aufzusuchen. Neben der digitalen Infrastruktur benötigt blended councelling also auch eine physische Einrichtungsstruktur, die ebenfalls flächendeckend vorhanden ist.

Blended councelling nicht als Einzellösungen umsetzbar

Die Angebotsstruktur der Suchtberatung erfüllt dieses Kriterium mit ihren über 1.200 Einrichtungen bundesweit. Doch angesichts der prekären bis höchst gefährdeten finanziellen Ausstattung von Einrichtungen, Vereinen und sogar Verbänden ist es unrealistisch, dass Angebote des blended councelling jeweils als Einzellösungen unabhängig voneinander entwickelt werden. Aufgrund dieser Ausgangslage bietet sich eine Plattformlösung an. Dabei wird die digitale Infrastruktur von zentraler Stelle entwickelt und bereitgestellt. Einrichtungen können sich als Anbieter registrieren und ihr Angebot vor Ort und im digitalen Raum zur Verfügung stellen.

Entwicklung bundesweiter Plattformen

Es besteht also ein großer Wunsch, in der Digitalisierung auch jene mitzunehmen, die nicht in der Lage sind, eigene Angebote zu entwickeln, die nicht über die personellen und finanziellen Ressourcen verfügen, eigene Innovationen umzusetzen, auch wenn es nicht an Ideen mangelt. Naheliegend ist daher, Strukturen und Zugänge übergeordnet bereitzustellen und über Plattformen auch diesen Einrichtungen ein digitales Beratungsangebot zu ermöglichen.

Qualitative und fachliche Standards sowie wirtschaftliche Vorteile

Plattformlösungen haben Vor- und Nachteile. Zu den Vorteilen zählt neben der genannten Bereitstellung der technischen Infrastruktur eine Einheitlichkeit der Angebote, was z. B. die Qualitätssicherung und Anwendung fachlicher Standards betrifft. Diese Zentralisierung ist auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten relevant, weil Entwicklungsprozesse nicht in jedem einzelnen Angebot durchgeführt werden müssen. Dasselbe gilt für die Errichtung der technischen Infrastruktur. Einheitlichkeit und gesicherte Qualität sind auch für Hilfesuchende allerorts ein Vorteil bei Plattformlösungen. Menschen, die eine digitale Beratung aufsuchen, müssen sich nicht mit einem möglicherweise frustrierenden Vergleich unterschiedlicher Angebote befassen, sondern können schnell und verlässlich Hilfe finden, die nachweislich wirksam ist.

„One size fits all“-Lösung wird nicht allen gerecht

Sicherlich gehört es zu den Nachteilen, dass Plattformen all jene Projekte und Innovationen etwas zurückhalten, die besser sind als eine „one size fits all“-Lösung. Und gerade all jene Verbände, Vereine, Träger und Einrichtungen, die mit viel Aufwand und Einsatz bereits eigene Angebote und Strukturen entwickelt haben, dürften nicht begeistert von der Idee sein, diese zugunsten eines Plattform-Angebotes zurückzustellen. Es ist also eine Herausforderung bei der Entwicklung von Plattformen, zu berücksichtigen, dass bestehende Angebote parallel genutzt oder noch besser integriert werden können.

Ende des Jahres 2020 begannen zwei größere und bundesweite Vorhaben, Plattformen für die digitale Suchtberatung zu entwickeln und aufzubauen, auf denen Beratungsstellen mit vergleichsweise wenig eigenem Aufwand ein digitales Angebot der Suchtberatung bereitstellen können. Im Rahmen des Onlinezugangsgesetzes (OZG) wird der Aufbau einer Sozialplattform vorgenommen, die auch das Angebot der Suchtberatung umfassen soll. Parallel wurde das Konzept DigiSucht von der delphi GmbH im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) entwickelt und veröffentlicht, welches als Projekt zunächst die konzeptionelle Vorlage für eine Plattform, nicht aber die Errichtung derselben, beinhaltete.

Die folgenden Abschnitte sollen nun die parallele Entwicklung beider Vorhaben nachzeichnen und über den aktuellen Stand im August 2022 informieren.

Hintergrund des OZG – Auftrag und Beginn der Umsetzung der Sozialplattform

Das Onlinezugangsgesetz trat im Jahr 2017 in Kraft und sieht in gemeinschaftlicher Arbeit von Bund und Ländern die Digitalisierung von bzw. den digitalen Zugang zu über 500 Verwaltungsleistungen vor. Diese Verwaltungsleistungen wurden in Themenfelder gegliedert, und einzelne Länder bzw. Landesministerien wurden beauftragt, für bestimmte Themenfelder nach dem „Einer für Alle“-Prinzip eine Umsetzung zu erarbeiten und allen Ländern zur Verfügung zu stellen. Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (MAGS NRW) übernahm die Federführung für den Bereich Arbeit und Ruhestand. In den dort verorteten Sozialleistungen finden sich neben zahlreichen Antragsleistungen der Verwaltung auch Beratungsleistungen wie die Schuldner- und die Suchtberatung. Mit der Errichtung einer Sozialplattform (https://sozialplattform.de/) sollen diese Leistungen gebündelt zur Verfügung gestellt werden.

Spezifik der Beratungsangebote

Die Leistungen im Bereich der Beratungsangebote unterscheiden sich von den Antragsleistungen nicht nur in ihrer Art der Durchführung, sondern auch wesentlich durch die Leistungserbringer, die in der Regel keine kommunalen Verwaltungsstellen sind. Im Bereich der Suchtberatung sind es zumeist Beratungsstellen aus dem Spektrum der Suchthilfe in Deutschland, z. B. in Trägerschaft von Vereinen und Verbänden der freien Wohlfahrtspflege, kirchlicher und unabhängiger Träger. Insofern entstanden Ende 2020 Kontakte zwischen dem MAGS NRW und u. a. der DHS, in der die allermeisten Verbände der Suchthilfe zusammengeschlossen sind. Zudem wurde zwischen dem MAGS NRW und dem BMG ein Kontakt aufgebaut, um zu erörtern, ob und wie das im Projekt DigiSucht erarbeitete Konzept der digitalen Suchtberatung in die Sozialplattform des OZG eingefügt werden kann.

Keine Integration von DigiSucht

Da sich im Jahr 2021 herausstellte, dass die Umsetzung des Konzeptes DigiSucht nicht über die Sozialplattform realisiert werden kann, begann die parallele Entwicklung dieser beiden bundesweiten Plattformen. Die Sozialplattform hat grundsätzlich einen sehr viel breiter angelegten Auftrag zu erfüllen und, wie beschrieben, den digitalen Zugang zu etlichen Verwaltungsleistungen umzusetzen. In den Beratungsleistungen der Sozialplattform konnte den Forderungen der einbezogenen Vertreter:innen aus Einrichtungen, Forschung, Verbänden, Landessstellen und, unter weiteren Institutionen, auch der DHS nicht entsprochen werden, und die Funktionalität der digitalisierten Beratung wird auf wenige Anwendungen beschränkt bleiben. Registrierten Einrichtungen werden über die Plattform eine Terminmanagementfunktion sowie Möglichkeiten der text- und videobasierten Kommunikation zur Verfügung stehen. Ein Beratungsstellenfinder hilft bei der Suche nach einem passenden Angebot – sowohl digital als auch vor Ort. Die Beratungsstellensuche soll dabei die tatsächliche Angebotslandschaft abbilden und nicht nur auf registrierte Einrichtungen beschränkt sein. Hilfesuchende sollen die Möglichkeit erhalten, auch solche Einrichtungen zu kontaktieren, die die Kommunikationstools der Sozialplattform nicht nutzen.

Im Sommer des Jahres 2022 befindet sich die Sozialplattform noch im Aufbau, eine Beta-Version ist bereits online nutzbar. Die Funktionalitäten der Suchtberatung sollen bis zum Jahresende umgesetzt werden.

 DigiSucht – vom Konzept zum Aufbau einer digitalen Suchtberatungsplattform

In der zweiten Jahreshälfte 2020 erarbeitete die delphi GmbH im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums das Konzept für eine trägerübergreifende Plattform der digitalen Suchtberatung. Die Projektnehmerin entwickelte das Konzept DigiSucht in Kooperation mit Landesstellen und Einrichtungen der Suchtberatung. Neben einer Bestandsaufnahme wurden Bedarfe ermittelt und Instrumente für die Durchführung eines blended counselling beschrieben (z. B. zur individuellen Bedarfserfassung und Zieldefinition, zu Risikominderung und Motivierung und zur Kommunikation zwischen Einrichtung und Klient:in). Zudem erfolgten Überlegungen zur Integration der Plattform in die komplexe Versorgungsstruktur.

Kooperation der delphi GmbH mit der Versorgungslandschaft

Im Zuge der Verhandlungen über eine Integration des Konzeptes in die Sozialplattform des OZG wurde die Kooperation der delphi GmbH mit der Versorgungslandschaft ausgeweitet, und weitere Verbände wurden über die DHS in Beratungen einbezogen. Die so erweiterte Arbeitsgruppe DigiSucht formulierte Mindestanforderungen, die bei der Implementierung zu berücksichtigen seien. Neben fachlichen Standards wurden auch Forderungen nach einer Klärung der Finanzierungsfragen aufgestellt. Einrichtungen, die sich an einer digitalen Beratungsplattform beteiligen, müssten sowohl über technische Sachmittel als auch über qualifiziertes Beratungspersonal verfügen, um die Leistungen auch anbieten zu können.

Finanzierungsfragen

Die Finanzierung der Suchtberatung erfolgt überwiegend über kommunale Mittel sowie Zuwendungen der Bundesländer. Dadurch ergibt sich ein enorm heterogenes Feld bezüglich der Ausstattung und Ressourcen der Einrichtungen mit großen Unterschieden in den Bundesländern und Kommunen. Nur wenige Einrichtungen können über eine komfortable Ausstattung verfügen. Die Bewältigung zusätzlicher Aufgaben, der Personaleinsatz und Investitionen sind für die allermeisten Beratungsstellen schlicht nicht leistbar. Auf die finanzielle Notlage von Beratungsstellen machten die DHS und ihre Mitgliedsverbände im Jahr 2019 in zwei Veröffentlichungen aufmerksam: „Notruf Suchtberatung“ und „DHS Forderungen zur Suchtberatung“.

Trotzdem mangelt es in den Einrichtungen und Verbänden der Suchthilfe nicht am Willen und der Bereitschaft, sich den Herausforderungen der Digitalisierung und Weiterentwicklung der Suchtberatung zu stellen, sodass es dringend erforderlich war und ist, neben Landesstellen auch Vertreter:innen der Landesbehörden in die Planungen bundesweiter Lösungen einzubinden. Die Einrichtung von Landeskoordinierungsstellen ermöglicht die Begleitung der Umsetzung unter Gesichtspunkten der Finanzierung, aber auch der Organisation und der Koordinierung sich beteiligender Einrichtungen in den Ländern.

Umsetzung des DigiSucht-Konzeptes

Da im Rahmen der Umsetzung der Sozialplattform eine Integration des DigiSucht-Konzeptes nicht möglich war (siehe Abschnitt zum OZG weiter oben), entschied sich das BMG, den Aufbau einer trägerübergreifenden Plattform der Suchtberatung zu fördern. Das ebenfalls von delphi koordinierte Projekt mit dem Ziel der Umsetzung des DigiSucht-Konzeptes konnte daher an die Vorarbeiten anknüpfen und auch bestehende Strukturen der Arbeitsgruppen (Beteiligung von vielfältigen Akteur:innen der Länder, Landesstellen, Verbände und Einrichtungen) fortsetzen. Die Implementierung begann in der zweiten Jahreshälfte 2021 mit der Ausschreibung des technischen Aufbaus einer Plattform unter Berücksichtigung der Vorgaben des Konzeptes. Ein Beispiel für eine zentrale Vorgabe ist, dass bestehende open-source-Lösungen, die in Verbänden bereits großflächig angewandt werden, in die technische Struktur der Plattform integriert werden.

Die im Sommer 2022 laufende technische Umsetzung der Funktionalitäten wird von einer frühzeitig begonnenen Testphase mit Pilot-Beratungsstellen begleitet. Die Einbindung von Beratungsstellen soll die Anwendbarkeit und Praktikabilität der Funktionen sichern und noch im Aufbauprozess mögliche Schwachstellen identifizieren und eine Ausbesserung ermöglichen.

Ausblick: Nachhaltiger Betrieb der Plattform statt Modellprojekt mit befristeter Laufzeit

Aus Sicht der Hilfesuchenden besteht sicherlich ein großer Mehrwert darin, neben den vorhandenen Strukturen der Hilfen auch digitale Angebote nutzen zu können. Insbesondere bei einem ersten Schritt der Kontaktaufnahme kann dieser zusätzliche Weg beim Abbau von Hürden und Hemmnissen helfen.

Im weiteren Verlauf ist ein hybrides Angebot und blended councelling vorgesehen. Dies erfordert die Anbindung an eine ortsnahe Einrichtung und ist nicht unerheblich für die Strukturen der Versorgung. Denn im System müssen neben einem nur in der Theorie zentralen Angebot digitaler Beratung flächendeckende physische Strukturen vorgehalten werden, und die digitalen Erstkontakte müssen einen Prozess der Zuordnung zu den ortsnahen Einrichtungen durchlaufen, sodass spätere physische Kontakte mit einer Kontinuität im Beratungsprozess möglich sind.

Das ist nicht nur eine koordinatorische Herausforderung in der Phase der Plattformerrichtung. Der Personal- und Finanzbedarf für den kontinuierlichen Betrieb der Plattform sowie der Bedarf an technischer und inhaltlicher Weiterentwicklung machen deutlich, dass die Umsetzung nicht als Projekt mit Modellcharakter nach befristeter Laufzeit beendet sein kann. Neben den fortlaufenden Kosten eines digitalen Beratungsangebotes in Einrichtungen verursacht auch der Betrieb einer bundesweiten und trägerübergreifenden Plattform der Suchtberatung nach dem Aufbau fortwährend Kosten. Um die Funktionalität der Beratungsplattform nachhaltig abzusichern, ist ein entsprechendes Commitment der Länder und des Bundes erforderlich.

Kontakt und Angaben zum Autor:

Dr. Peter Raiser
Geschäftsführung und Referat Grundsatzfragen
Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen
Westenwall 4, 59065 Hamm
Tel. 02381 / 9015-0
Raiser(at)dhs.de
www.dhs.de

Literatur: