Wolfgang Rosengarten

Aufbruchstimmung in Krisenzeiten – die Bedeutung der Suchthilfe wächst

Wolfgang Rosengarten

Der neue Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, Burkhard Blienert, schreibt auf seiner Homepage: „Die Drogen- und Suchtpolitik muss in vielen Bereichen neu gedacht und neu gestaltet werden. Was wir brauchen, ist ein Aufbrechen alter Denkmuster. Es muss gelten: ‚Hilfe und Schutz statt Strafe.‘ Nicht nur beim Thema Cannabis, sondern in der Drogenpolitik insgesamt, national wie auch international. Die Welt steht gesundheitspolitisch vor nie dagewesenen Herausforderungen und auch die Sucht- und Drogenpolitik muss mit großem Engagement und ohne Vorurteile angegangen werden.“

Wie wohltuend müssen diese Worte in den Ohren all jener klingen, die in der bundesdeutschen Suchtpolitik der letzten Jahrzehnte eher eine Stagnation erlebt haben, die sich wie Mehltau über dieses wichtige gesundheitspolitische Arbeitsfeld gelegt hat. In der Politik und in der Öffentlichkeit hat die Suchtthematik dadurch einen Bedeutungsverlust in großem Ausmaß erfahren.

Und jetzt diese Aufbruchstimmung, gekoppelt mit zwei Vorhaben der Bundesregierung, die in den letzten Jahrzehnten immer wieder an politischen Widerständen gescheitert sind: der kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken und der modellhaften Erprobungen von Drug-Checking.

Natürlich wird es bei der Umsetzung der Vorhaben Widerstand geben, sowohl in der Fachöffentlichkeit als auch in der Politik. Und natürlich gibt es eine große Anzahl von Fallstricken, lauert auch hier der Teufel im Detail. Bei einem gesundheits- und gesellschaftspolitischen Kurswechsel in einer seit mehreren Jahrzehnten hoch emotionalisierten und z. T. ideologisierten Debatte ein neues Regelwerk zu erstellen, das hochkomplexe Fragestellungen berücksichtigen muss, bedeutet eine enorme Herausforderung. Aber es bedeutet auch ein Ende der Stagnation, es wird wieder debattiert und gestritten werden. Er wird darum gerungen werden, die bestmögliche Lösung zu finden (die dann immer noch nicht die beste sein wird). Es kommen wieder Prozesse in Gang. Es wird wieder lebendig werden.

Eine gesetzliche Regulierung bei der Cannabisthematik muss darauf aufbauen, dass der Konsum von Cannabis Gesundheitsrisiken birgt und ein problematischer bzw. risikoreicher Konsum sowie der situationsunangepasste Konsum (z. B. Konsum am Arbeitsplatz, in der Schwangerschaft oder im Straßenverkehr) mit negativen Folgen für die Person selbst oder Dritte assoziiert sein kann. Die neue gesetzliche Regulierung muss das Ziel haben, die aktuelle Situation zu verbessern und Gefährdungspotentiale so weit wie möglich zu minimieren, besonders was Jugendliche betrifft.

Multidisziplinäre Kompetenz

In der medialen Öffentlichkeit wird die Stimme der Suchthilfe in der aktuellen drogenpolitischen Debatte noch nicht in dem Maße wahrgenommen, wie es für sie angezeigt wäre. Die Organisationen der Verbände und Einrichtungen haben schließlich die Expertise und langjährige Erfahrungen im Umgang mit den anstehenden Themen und vor allem den Menschen, um die es geht.

Die organisierte Suchthilfe hat ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber allen Berufsgruppen, die sich zu Wort melden werden, seien es Ärzt:innen, Jurist:innen oder Ökonom:innen: Niemand hat Drogen- und Suchtfragen umfassender im Blick als die Suchthilfe. Hier arbeiten multidisziplinäre Teams in der ambulanten und stationären Versorgung, in der Prävention und in der Selbsthilfe. Die Suchthilfe ist weit mehr als eine berufsständische Fachgesellschaft, die die Sichtweise und Interessen einer Berufsgruppe vertritt.

Das gesundheitliche Gefährdungspotential von Cannabis bei vulnerablen Gruppen ist unbestritten. Aber Suchtberatungsstellen sind auch mit Menschen konfrontiert, die aufgrund juristischer Auflagen zugewiesen werden, obwohl sie einen risikoarmen, nicht abhängigen und größtenteils unschädlichen Konsum betreiben. Diese Menschen werden allein wegen der aktuellen Rechtslage kriminalisiert, mit dem Resultat möglicher sozialer und psychischer Folgeschäden (gerade bei jugendlichen Konsument:innen).

Expertin für Prävention

Vor allem, um die im Zuge der kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken geäußerte unabdingbare Forderung nach begleitenden umfassenden Präventionsmaßnahmen zu erfüllen, sind die Erfahrungen und Kompetenzen der Suchthilfe unverzichtbar.

Es ist erfreulich, dass in der aktuellen Diskussion um die gesetzlichen Veränderungen das Thema Prävention eine herausragende Rolle spielt. Im Bereich der Prävention muss mit umfassender Information und Aufklärung über die gesundheitlichen Gefahren des Cannabiskonsums einem möglichen Eindruck entgegengewirkt werden, der Konsum werde legalisiert, weil Cannabis ungefährlich sei. Aufgrund der geänderten Gesetzeslage kann ferner auch das Thema risikoreduzierende Verhaltensweisen und Konsumformen in den Angeboten einen größeren Raum einnehmen.

Auch wenn der gesetzgeberische Prozess noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, kann Prävention nicht erst beginnen, wenn das Gesetz verabschiedet ist. Allerdings reichen die aktuellen Budgets und Ressourcen in der Suchthilfe hierfür nicht aus. Auf den Mittelzuwachs zu warten, bis die potentiellen Steuereinnahmen aus dem Cannabisverkauf realisiert sind, um daraus die Präventionsmaßnahmen zu finanzieren, ist allerdings keine Option.

Nötig sind Mittel, die der Bund der Suchthilfe im Vorfeld zur Verfügung stellt, um zielgruppenspezifische und situationsangepasste Präventionskonzepte vor dem Hintergrund der neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen zu erarbeiten sowie entsprechende Maßnahmen zu planen und in die Umsetzung zu bringen. Hierzu wäre es hilfreich, in einem Gremium mit Vertreter:innen der Bundesebene, der Länder und der Suchthilfe ein abgestimmtes Vorgehen zu erarbeiten.

Der neue Drogenbeauftragte sieht die Notwendigkeit vom „Aufbrechen alter Denkmuster“. Dies betrifft in der Suchtpolitik nicht nur den zukünftigen Umgang mit Cannabis.

Wir gehen bewegten und spannenden Zeiten entgegen.

Kontakt:

Wolfgang Rosengarten
w.rosengarten@t-online.de

Angaben zum Autor:

Wolfgang Rosengarten ist Leiter des Referats Prävention, Suchthilfe im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration in Wiesbaden. Vorher war er über 20 Jahre Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS) in Frankfurt am Main.