Aufruf zu einer digitalen Strategie in der Suchthilfe und Suchtprävention
Seit geraumer Zeit stößt man in den Medien auf den Begriff Industrie 4.0. Er beschreibt die schon eingeläutete nächste Stufe der industriellen Revolution, auf der sich die physikalische und die virtuelle Welt noch stärker verbinden. Im „Internet der Dinge“ (IoT – Internet of Things) kommunizieren Menschen, Maschinen, Gegenstände und Softwaresysteme miteinander. Das IoT trägt sowohl den Ansprüchen von Kunden Rechnung, die Produkte verlangen, die immer mehr ihren eigenen individuellen Vorstellungen entsprechen, als auch den Anforderungen an Unternehmen, kostengünstig zu produzieren (vgl. http://industrie-wegweiser.de/industrie-4-0/).
Weil im Rahmen von Industrie 4.0 zunehmend Maschinen Arbeiten verrichten, die vorher von Menschen durchgeführt wurden – bei gleichbleibender oder sogar gesteigerter Produktivität – werden bereits Forderungen nach einer ‚Robotersteuer‘ laut. Auch wenn die Idee, die Wertschöpfung von Robotern zu besteuern und im Gegenzug die Besteuerung von Arbeit zu verringern, sehr kontrovers diskutiert wird, zeigt es, dass die anstehenden Entwicklungen grundlegende Änderungen für die bisherigen Arbeits- und auch Angebotsstrukturen bedeuten (vgl. Balser, 2016).
Veränderungen durch die Digitalisierung
Ganze Branchen, die derzeit aus dem Alltag nicht wegzudenken sind, werden sich auflösen oder sich grundlegend wandeln, und das nicht nur im produzierenden Gewerbe. Die Veränderungen, die durch die Digitalisierung möglich werden, betreffen alle Lebensbereiche, wie die folgenden Beispiele zeigen:
- Die gesamte Struktur des Einzelhandels ändert sich, wenn Güter und Lebensmittel im Internet geordert und innerhalb weniger Stunden per Drohnen ins Haus geliefert werden.
- Start-up-Unternehmen, so genannte FinTechs (Financial Tech), beginnen derzeit, die etablierte Banken- und Versicherungsbranche durcheinanderzuwirbeln, indem sie Finanzdienstleistungen mit einem Minimum an Personal und unter gänzlichem Verzicht auf repräsentative Immobilien per Internet preiswert anbieten. Im Deutsche Bank Research „Fintech – Die digitale (R)evolution im Finanzsektor“ (Teil 1, 2014, S. 5) heißt es: „So gerät der Finanzsektor in diesen Bereichen also nicht durch eigene, der Branche zugehörige Finanzdienstleister in Bedrängnis, sondern zunehmend durch technologiegetriebene Unternehmen, die sich digital und mit großer Dynamik in den Markt für leicht zu standardisierende Finanzprodukte und -dienste drängen, um Kunden und Marktanteile zu gewinnen.“
- Die Autoindustrie muss ihr Geschäftsmodell, immer mehr Autos zu produzieren, umstellen, wenn durch die Verbreitung der „Sharing Economy“ via Internet nicht mehr der persönliche Besitz eines Fahrzeugs wichtig ist, sondern nur der Wunsch, schnell, unkompliziert und jederzeit von A nach B zu kommen. Längst haben deshalb Autohersteller wie beispielsweise BMW mit „DriveNow“ und Daimler mit „car2go“ eigene Mobilitätsdienste aufgebaut oder sind daran beteiligt wie z. B. Volkswagen an „Greenwheels“. Auch andere Autohersteller denken bereits darüber nach, in Zukunft eigenes Carsharing anzubieten (vgl. http://www.carsharing-news.de/).
- Meist unbemerkt ist der 3D-Druck heute schon im Alltag von Millionen Menschen angekommen. So stammen Hörgeräte und Zahnersatz inzwischen sehr oft aus 3D-Druckern. Beim 3D-Druck werden die Werkstücke computergesteuert aus einem oder mehreren flüssigen oder festen Werkstoffen nach vorgegebenen Maßen und Formen gefertigt. Die Bauteile oder Ersatzteile können auch in kleinen Margen „just in time“ selbst hergestellt werden. Zulieferer und Lagerkapazitäten werden hierbei nicht mehr gebraucht. Ein Grund, weshalb diese Technik auch in Gasturbinen und Flugzeugtriebwerken Anwendung findet.
- Die Taxibranche wird weltweit durch Unternehmen wie Uber in ihrer Existenz bedroht, denn mit den Möglichkeiten des Internts kann jeder Autofahrer zum Taxifahrer werden.
- Vom Urlaub aus die eigene Wohnung überwachen, vom Büro aus die Heizung zu Hause regulieren, ein Kühlschrank, der meldet, wenn Lebensmittel nachgekauft werden müssen: Im Bereich Smart Home macht das Internet der Dinge via App all dies heute schon möglich.
- Die Überalterung der Gesellschaft und die steigende Lebenserwartung bei gleichzeitiger Ausdünnung der Infrastruktur im ländlichen Bereich sowie der Wunsch von immer mehr Menschen, ihren Gesundheitsstatus permanent selbstständig überwachen zu können, führen zu einer immensen Dynamik im Bereich E-Health. Immer neue Anwendungen kommen auf den Markt, bei denen der Kontakt zwischen Behandler/in und Patient/in per App über das Internet hergestellt wird.
- Fachkräftemangel im Pflegebereich und der Wunsch vieler Menschen, möglichst lange in den eigenen vier Wänden wohnen zu können, bieten einen enormen Markt für internetgestützte Assistenzsysteme.
- Im Bereich E-Mental-Healthcare (Gesundheitsversorgung per Internet für Menschen mit psychischen Erkrankungen) gibt es erste Untersuchungen, die das positive Potenzial internetbasierter Nachsorge nach einer stationären Therapie belegen (vgl. https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/index.php?id=137792). Therapieangebote per Internet z. B. bei Depressionen oder Angststörungen werden in der Literatur als wirksam und nachhaltig bewertet (Knaevelsrud, Wagner & Böttche, 2016).
Die oben genannten Beispiele sind schon jetzt Realität, und es ist unrealistisch anzunehmen, die Bereiche der Suchthilfe und Suchtprävention wären von solchen tiefgreifenden Veränderungen, die zum Verschwinden ganzer Branchen und Strukturen führen, komplett ausgenommen. Suchthilfe und Suchtprävention bestehen zu weiten Teilen aus Kommunikation. Und wenn die Kommunikation zwischen Menschen bei der Inanspruchnahme von Dienstleistungen ebenso wie die Rezeption von Informationen immer stärker per Internet geschieht, müssen Suchthilfe- und Suchtpräventionsangebote diesem Verhalten und den damit verbundenen Erwartungen Rechnung tragen. Die Suchthilfe ist deshalb gefordert, Konzepte für eine nachfragegerechte Gestaltung der derzeitigen Angebote und Dienstleistungen zu entwickeln.
Anforderungen an die Suchthilfe
Voraussichtlich werden auch im Bereich der Suchthilfe mithilfe der Digitalisierung sehr schnell Geschäftsmodelle möglich, die Kundeninteressen oder Kostenträgerinteressen befriedigen und dafür die aktuellen Strukturen, Einrichtungen und Mitarbeitenden nicht mehr in dem Umfang benötigen, wie es zurzeit noch der Fall ist. Die Einführung der Smartphones, deren Existenz heute nicht mehr wegzudenken ist und mit denen viele der digitalen Möglichkeiten ‚in der Hosentasche‘ transportiert werden können, liegt erst neun Jahre zurück. Ein Indiz, das zeigt, wie rasant die aktuellen Entwicklungen vorangehen.
Deshalb ist es eine dringende Aufgabe für die Suchthilfeverbände, sich an zentraler Stelle mit dem aktuellen Stand der digitalen Transformation und speziell mit den Entwicklungen und Möglichkeiten im Bereich E-Mental-Healthcare auseinanderzusetzen. In einem ersten Schritt sollten die bereits existierenden Angebote im Bereich der Suchthilfe und Suchtprävention (Online-Beratung per E-Mail oder Chat, Foren, interaktive Homepages, internetgestützte Selbstkontrollprogramme, Apps etc.) strukturiert erfasst und die gemachten Erfahrungen ausgewertet werden. Neben Angeboten aus Deutschland sollten aufgrund der langjährigen Erfahrungen mit entsprechenden Angeboten auch solche aus der Schweiz und den Niederlanden einbezogen werden. Problemstellungen im Bereich des Datenschutzes müssen mitdiskutiert und praktikable Lösungen gefunden werden.
Anschließend sollten Modelle konzipiert werden, wie bereits heute Elemente der digitalen Kommunikation im Bereich der Suchthilfe und Suchtprävention den Einrichtungen vor Ort zur Verfügung gestellt werden können, beispielsweise die Online-Buchung von verfügbaren Terminen, die die Klient/innen selbst vornehmen können. Das Team der Beratungsstelle braucht so weniger Zeit für Telefonate, und durch kurzfristige Absagen frei gewordene Termine können durch die Internetbuchung schnell wieder belegt werden. Entsprechende Programme sind verfügbar und werden in Arztpraxen bereits vielfach verwendet.
Bei dem einzuleitenden Prozess sollte das Hauptaugenmerk immer darauf gerichtet sein, wie die digitalen Interventionsmöglichkeiten mit den Face-to-Face-Kontakten kombiniert werden können, um die Versorgung von Betroffenen sinnvoll zu ergänzen bzw. junge Zielgruppen mit suchtpräventiven Botschaften besser zu erreichen.
Kontakt:
Wolfgang Schmidt-Rosengarten
Hessische Landesstelle für Suchtfragen e. V. (HLS)
Zimmerweg 10
60325 Frankfurt a. M.
Tel. 069/71 37 67 77
wsr@hls-online.org
www.hls-online.org
Angaben zum Autor:
Wolfgang Schmidt-Rosengarten ist Erziehungswissenschaftler und Suchttherapeut. Seit 1998 ist er Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen e. V. (HLS).
Literatur und Links:
- Balser, Markus: Deutschland droht die digitale Kluft, in: Süddeutsche Zeitung, 16.11.2016, S. 26.
- Deutsche Bank Research (2014): Fintech – Die digitale (R)evolution im Finanzsektor. Algorithmenbasiertes Banking mit human touch (Teil 1). Im Internet verfügbat unter: https://www.dbresearch.de/PROD/DBR_INTERNET_DE-PROD/PROD0000000000354505/Fintech_reloaded_%E2%80%93_Die_Bank_als_digitales_%C3%96kosyste.pdf [letzter Zugriff: 14.11.2016]
- Knaevelsrud, C., Wagner, B. & Böttche, M. (2016): Online-Therapie und -Beratung. Ein Praxisleitfaden zur onlinebasierten Behandlung psychischer Störungen. Göttingen: Hogrefe.
- Konsensuspapier zur Internet-Therapie der Techniker Krankenkasse vom 4. September 2013.
- http://industrie-wegweiser.de/industrie-4-0/ [letzter Zugriff: 14.11.2016]
- http://www.carsharing-news.de/ [letzter Zugriff: 14.11.2016]
- https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/index.php?id=137792 [letzter Zugriff: 17.11.2016]