Rainer Baudis

Verbesserung des Entscheidungsverhaltens bei Substanzmittelabhängigkeit

Rainer Baudis

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Neuropsychologische Beeinträchtigungen von Suchtkranken wurden in einer Reihe von Untersuchungen aufgezeigt. Ihre „Dosisabhängigkeit“ (je mehr Suchtmittel konsumiert wird, desto größer sind die Schäden) wurde von Bolla et al. (1999; 2002) nachgewiesen. Die Beeinträchtigungen betreffen Arbeitsgedächtnis, kognitive Flexibilität, Aufmerksamkeit/Vigilanz, Konzentration, die exekutiven Funktionen und Entscheidungsverhalten/Decision Making. Dabei erwies sich das Entscheidungsverhalten zur Prognose erfolgreicher Teilhabe und Alltagsbewältigung als besonders relevant (Bechara 2002; Passetti et al. 2007). Becharas Studie untersucht die Fähigkeit zur Alltagsbewältigung, um mittelfristig die Lebensqualität von Abhängigen zu verbessern.

Damasio und Bechara (2002) wiesen nach, dass abhängige Probanden im Vergleich zu gesunden in ihrer Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt sind. Schon 1994 hatten sie ein Testverfahren entwickelt, das Probanden die Aufgabe stellt, herauszufinden, welche von vier Stapeln eines Kartenspiels ertragreich und welche verlustbringend sind, um möglichst viele Punkte zu sammeln. Dabei kann man sich nur langsam herantasten und muss sich von Ahnungen leiten lassen. Solche zielführenden vagen Empfindungen nennt Damasio „somatische Marker“. Stehen diese nicht zur Verfügung aufgrund einer Hirnläsion oder weil sie impulsiv übertönt werden, ist ein erfolgreiches Entscheidungsverhalten nicht möglich. Bechara (2005) entwickelte diese Theorie weiter und beschrieb Abhängigkeit in der Dynamik eines „reflexiven“ und eines „impulsiven“ Systems. Danach werden Suchtkranke durch eine Übererregung des impulsiven Systems (Hypersensibilität für Belohnung) oder durch eine geschwächte „Top-Down-Steuerung“ (exekutive Funktionen) verleitet, mittelfristige Ziele zugunsten der Erfüllung kurzfristiger Ziele zu vernachlässigen und Misserfolge (bezogen auf die mittelfristigen Ziele) nicht zu beachten.

1. Entstehung des Trainingsmanuals HALT!

Abb. 1: Logo des HALT!- Programmes

Das „Trainingsmanual HALT!“ ist im Rahmen eines Forschungsprojekts (2009 bis 2013) entstanden, das der Verein für Jugendhilfe Böblingen e. V. mit seinen Rehabilitationseinrichtungen in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer Institut (IAO) Stuttgart im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg durchgeführt hat. Ziel war es, die Alltagsbewältigung und Selbststeuerung von Suchtkranken zu verbessern. Zunächst wurden 249 empirische Studien zur neuropsychologischen Beeinträchtigung ausgewertet unter besonderer Berücksichtigung des Entscheidungsverhaltens. Die Auswertung führte zu einem Modell, welches das Entscheidungsverhalten, exekutive Funktionen, emotionale Selbstkontrolle und Impulsivität miteinander verknüpft: das Faktorenmodell der Entscheidungsfähigkeit (vgl. Abb. 2). Impulsivität wird als ein grundlegendes Phänomen bei Abhängigkeit angesehen: (a) als Folge beeinträchtiger Top-Down-Steuerung sowohl der kalten wie der heißen Kognition (Zelaszo et al. 2007) oder (b) als Aktivierung bzw. Hypersensibilisierung des impulsiven Systems.

Abb. 2: Faktorenmodell der Entscheidungsfähigkeit: Kalte und heiße Kognition bilden als Top-Down-Kontrollsysteme ein Gegengewicht zur Impulsivität. Von der „Kräfteverteilung“ zwischen Kontrolle und Impulsivität hängen die Entscheidungsfähigkeit und die Fähigkeit zur Aufmerksamkeitssteuerung ab.

Um eine rehabilitative Anwendung zur Verbesserung des Entscheidungsverhaltens, der emotionalen Selbststeuerung und der Alltagsbewältigung zu entwickeln, wurden als nächster Schritt 414 empirische Studien ausgewertet, die Verbesserungen der neuropsychologischen Beeinträchtigung bzw. Impulsivität behandeln. Klingberg (2010) wies beispielsweise die Trainierbarkeit des Arbeitsgedächtnisses und Verbesserungen bei ADHS nach. Eine beträchtliche Zahl an Studien belegt die Möglichkeit, exekutive Funktionen zu verbessern, z. B. durch bestimmte Aufgaben. Die adressierten Gehirnareale reagieren mit neuroplastischen Veränderungen („gelenkter Reorganisation“, Robertson & Murre 1999). Das Programm HALT! folgt diesem Paradigma und beschreibt Module, die geeignet sind:

  • die Überansprechbarkeit des impulsiven Systems herunterzufahren,
  • die Steuerung von Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis zu trainieren,
  • die Entwicklung eines Störungsbewusstseins zu fördern und
  • emotionale Selbststeuerung fokussiert anzusprechen (Baudis 2014 a).

Die Literaturrecherche ergab, dass es zur Verbesserung des Entscheidungsverhaltens bisher keine ausgearbeiteten Tools wie etwa zum „Problemlösen“ gibt. Deshalb wurde das Trainingsmanual HALT! entwickelt, zu dem ein Handbuch („Abhängigkeit und Entscheiden“) und ein psychoedukatives Modul („Die Kunst des Entscheidens“) erschienen ist. Die Grundidee besteht darin, den Rehabilitanden ein einfaches Modell von Entscheidungsverhalten einzuprägen, um dysfunktionale Entscheidungsprozesse mit guten Entscheidungsprozessen zu überschreiben und alltagsbezogen zu trainieren. „HALT!“ repräsentiert den Entscheidungsprozess aus den Schritten Halt an!, Aktualisiere!, Lenke!, Tu! (s. Abb. 3; Baudis 2014b).

2. Ziele und Aufbau des Trainingsmanuals HALT!

Abb. 3: Signalkarte HALT!

Abb. 3: Signalkarte HALT!

Das neuropsychologisch basierte Trainingsmanual HALT! ist als ein ganzheitlicher Therapieansatz konzipiert, der die Entscheidungsfähigkeit und die sie begleitenden kognitiven und affektiven Fähigkeiten ansprechen soll. Zielsetzung ist eine allgemeine Verbesserung von Alltagsbewältigung und Teilhabe. Das Programm HALT! stützt sich auf Methoden, die sich in Studien als wirksam erwiesen haben, und entwickelt eigene Ansätze zu Impulsivität und Entscheidungsverhalten. Es ist modular aufgebaut und schließt zur Verbesserung der Therapiefähigkeit und der kognitiven Erholung folgende Elemente ein:

  • neuropsychologisches Basistraining (fünfwöchiges Ausdauertraining wie Joggen/Walken oder fünfwöchige Suchtakupunktur),
  • Training zur Verbesserung von Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis (Achtsamkeitstraining oder PC-gestütztes Training) und
  • Vertiefung des Störungsbewusstseins.

Zur Verbesserung von Impulsivität und Entscheidungsverhalten beinhaltet HALT! fokussierte Gruppenpsychotherapie, die Hand in Hand geht mit dem psychoedukativen Modul „Die Kunst des Entscheidens“. Dieses ist zur Umsetzung in angeleiteten Gruppen konzipiert, kann aber auch als eigenständig zu erarbeitendes Curriculum dienen.

„Die Kunst des Entscheidens“ orientiert sich an neuropsychologischen Erkenntnissen zum Verlauf der Abstinenz und bearbeitet systematisch die Impulsivität. Die einzelnen Schritte sind:

  • Hypersensibilität herunterfahren,
  • impulsives Entscheidungsverhalten erforschen und hinterfragen (Urteilsheuristik) und
  • den Entscheidungsprozess mit dem unmittelbar zugänglichen Modell HALT! (s. Abb. 3) reorganisieren.

Von der ersten Einheit an wird anti-impulsive Kognition gefördert, d. h.:

  • Förderung einer längerfristigen Orientierung und eines zielorientierten Verhaltens,
  • Finden eines Zugangs zu unmittelbarer zielkonfliktfreier Befriedigung und
  • Auseinandersetzung mit impulsivem Verhalten und dem Treffen von Entscheidungen (z. B. mit Hilfe der Signalkarte HALT!, s. Abb. 3).

Gezielte Aufgaben und Anforderungen stärken die exekutiven Funktionen und die emotionale Selbststeuerung wie das Bewältigen von starken Gefühlen, Impulsen und Hochrisikosituationen sowie die Entwicklung eines mittelfristigen persönlichen Selbstmonitorings. „Die Kunst des Entscheidens“ eröffnet neue Sichtweisen auf gängige Suchtthemen wie „Rückfallrisiko als Präferenzkonflikt“, woraus sich wiederum neue praktische Ansätze ergeben (z. B. das „Bündeln“ von Entscheidungen u. a.). Methodisch bereichernd ist der Einsatz neuer Verfahren wie z. B. die Aktivierung des prospektiven Gedächtnisses („implementation intention therapy“ oder „future thinking“).

Durchgängig wird der innere Prozess des Entscheidens (re-)organisiert, von der Phase der Ambivalenz bis hin zu handlungsleitenden Emotionen. Ziel ist, dass sich ein innerer Dialog entwickelt, an dem alle „Entscheider“ beteiligt sind („Inneres Team“) – auch das „suchtbezogene Ich“ mit seiner spontanen Entscheidungsmacht. Denn nicht in seiner Beteiligung liegt das Risiko, sondern in der mangelnden Beteiligung aller anderen Entscheidungsagenten.

Abb. 4: App mit dem „persönlichen Erinnerer“

Abb. 4: App mit dem „persönlichen Erinnerer“

Ein besonderer Ansatz des HALT!-Programms liegt darin, Erfahrungen der Teilnehmer so aufzuarbeiten, dass persönliche „Erinnerer“ erschlossen werden, die an eigene Lebenserfahrungen anknüpfen und damit in besonderer Weise der Steuerungs- und Entscheidungsfähigkeit dienen. Sie sorgen dafür, dass die wichtigen „Entscheider“ identifiziert und emotional besetzt im Entscheidungsprozess rasch zugänglich sind. Damit die persönlichen Erinnerer im Alltag jederzeit zur Verfügung stehen, können sie in eine Internetapplikation (www.Programm-halt.de, s. Abb. 4) eingefügt und für Smartphones bereitgestellt werden.

Das Manual „Die Kunst des Entscheidens“ besteht aus zwanzig Einheiten. Jede Einheit stellt ihr Thema informativ auf dem Stand des aktuellen Wissens vor und gibt dann Anleitung dazu, das Thema persönlich zu erkunden. Zu jeder Einheit werden in einem Begleitband Arbeitsblätter bereitgestellt. Jede Einheit mündet in ein „Training im Alltag“.

3. Wissenschaftliche Evaluation des HALT!-Programms

Das HALT!-Programm wurde zwischen März 2011 und April 2012 parallel in fünf Reha-Einrichtungen für Suchtkranke durchgeführt und evaluiert. Die Stichprobe umfasste 101 abhängige Probanden im Alter zwischen 19 und 48 Jahren. Sie verteilten sich auf die Referenzdrogen Alkohol (12 Prozent), polytox mit Opiaten (44 Prozent) und THC-Mischkonsum (44 Prozent). Rehabilitanden mit komorbiden Störungen, die Psychopharmaka erhielten, wurden aus der Studie ausgeschlossen, ebenfalls Rehabilitanden mit Hinweis auf Demenz.

3.1 Diagnostische Verfahren

Zur Diagnostik des Entscheidungsverhaltens wurde die Stuttgarter Gambling Task (STGT), eine deutsche Version der Iowa gambling task (IGT) von Damasio und Bechara, programmiert und in eine Testbatterie aus bewährten Verfahren zum Testen exekutiver Funktionen integriert. Weiterhin wurde ein Messinstrument für Alltagsverhalten in Form von Ratingskalen zur Selbst- und Fremdeinschätzung entwickelt. Die diagnostischen Verfahren wurden in einer Vorstudie mit 30 abhängigen Probanden geprüft und selektiert. Eingesetzt wurden am Ende die Verfahren, die in der Tabelle (Abb. 5) aufgelistet sind.

Abb. 5: Tabelle der eingesetzten diagnostischen Verfahren

Die neuropsychologische Untersuchung und die Messung des Alltagsverhaltens (Selbst- und Fremdeinschätzung) fanden nach Abklingen aller Entzugssymptome in den ersten vier Wochen und zum Ende in der 16. Woche statt. Alle untersuchten Probanden nahmen am Programm HALT! mit dem Trainingsmanual „Die Kunst des Entscheidens“ teil. Das Forschungsprojekt wurde von der Ethikkommission der Ärztekammer Stuttgart bewilligt und von der DRV Baden-Württemberg und dem Spendenfond des Diakonischen Werkes Württemberg finanziert.

3.2 Datenerhebung

Die Tests wurden durch das Fraunhofer Institut durchgeführt. Parallel zur Stuttgarter Gambling Task wurden Hautleitwerte gemessen. Die technischen Geräte und die nötige Software stellte das Fraunhofer Institut in Zusammenarbeit mit der Universität Karlsruhe zur Verfügung. Für alle Tests lagen deutschsprachige Instruktionen vor. Die Untersuchungen wurden innerhalb von zwei Stunden mit einer Pause in festgelegter Reihenfolge durchgeführt. Die Fremdeinschätzung anhand der Ratingskalen nahm der Bezugstherapeut zeitgleich vor.

Alle Rehabilitanden wurden bei der Aufnahme über das Programm HALT! und über die Studie informiert. Sie nahmen an einer 90-minütigen Einführung teil und erhielten dann für ihre Aktivitäten einen „Trainingsbogen“, der alle Trainingseinheiten übersichtlich dokumentierte und kleine Anreize vorsah. Zur Teilnahme an der Studie konnten die Rehabilitanden sich freiwillig melden. Für die vollständige Teilnahme an den Untersuchungen wurden 50 Euro angeboten.

3.3 Ergebnisse der Stuttgarter Gambling Task (STGT) – Entscheidungsverhalten der abhängigen Probanden

Nach der Stuttgarter Gambling Task (STGT) sind mehr als die Hälfte der Probanden aufgrund der hohen Spielgeldverluste oder der geringen Spielgeldgewinne als beeinträchtigt zu bezeichnen. Es zeigt sich ein Spielverlauf, der nahezu identisch ist mit dem, den Damasio und Bechara 2002 zur Iowa gambling task (IGT) veröffentlichten (s. Abb. 6): Die abhängigen Probanden fanden bis zum Schluss keine erfolgreiche Strategie bzw. ließen sich von ihr ablenken. Bei gesunden Vergleichsprobanden steigerte sich der Erfolg stetig bis hin zum letzten Block.

Abb. 6: Profile der STGT-Performance von Substanzabhängigen (große rote Kreisflächen) über der IGT-Performance von Gesunden (Normal Control), Substanzabhängigen (SDI) und ventro-medial Lädierten (VM Lesions) bei Damasio und Bechara (2002)

Abb. 6: Profile der STGT-Performance von Substanzabhängigen (große rote Kreisflächen) über der IGT-Performance von Gesunden (Normal Control), Substanzabhängigen (SDI) und ventro-medial Lädierten (VM Lesions) bei Damasio und Bechara (2002)

Eine Erklärung dafür, dass abhängige Probanden unter ihren Möglichkeiten bleiben, ist mangelnde Kontrolle von Impulsivität, die dazu führt, dass zielführende Empfindungen übertönt werden. Tatsächlich zeigen sich signifikante Korrelationen der STGT mit der Go/NoGo-Task (gestörte Impulskontrolle) auf dem 1,1-Niveau.

Analog zu den obigen Ergebnissen zeigt die STGT einen signifikanten Zusammenhang von 0,015* mit dem Category Test (flexibles Erkennen von Regeln/Shifting; hier: Wechsel zu den erfolgreichen Stapeln) und einen hochsignifikanten Zusammenhang mit dem Arbeitsgedächtnistest (Updating; hier: Präsent-Halten der Ahnungen, bis eine Regel gefunden wurde).

Mit viel Aufwand wurden mit jedem STGT-Spielzug drei verschiedene Hautleitwerte gemessen, um die Impulsivität während des Entscheidungsprozesses zu erfassen. Auf eine Auswertung musste verzichtet werden, da die unterschiedlichen Messwerte technisch nicht hinreichend zu trennen waren.

3.4 Profil neuropsychologischer Funktionsfähigkeit bei Abhängigkeit

Von der STGT gibt es, da sie ja gerade erst programmiert wurde, noch keine empirischen Normwerte. In Anlehnung an Bechara (2002) wurde unterhalb eines Gesamtwertes von 50 von Beeinträchtigung ausgegangen. Für die anderen hier folgenden Angaben gilt: Prozentwerte und Prozentrang ordnen die Ergebnisse in Bezug auf die jeweilige Eichstichprobe.

Bezüglich neuropsychologischer Beeinträchtigung und Impulsivität ergab sich für die abhängigen Probanden folgendes Profil:

  • Decision Making: Die Werte der STGT lagen im Durchschnitt unter der Norm und teilten die Studienteilnehmer in beeinträchtigtes (54 Prozent) und unauffälliges Entscheidungsverhalten.
  • Inhibition: Bei der Go/NoGo-Task lag der Durchschnitt der Studienteilnehmer mit 23 Prozent unter dem Durchschnitt der Grundgesamtheit (→ gestörte Impulskontrolle).
  • Updating: Beim Arbeitsgedächtnistest hatte der Mittelwert der Studienteilnehmer einen Prozentrang von 24 (→ Unaufmerksamkeit, mangelhaftes Kurzzeitgedächtnis).
  • Shifting: Im Category Test zeigte sich eine hohe Fehlerquote mit durchschnittlich 23,6 Total Errors (bei einer Streuung von 2 bis 69; → Neigung zu Perseveration).
  • Aufmerksamkeit und Konzentration: Bei dem d2 wurde einen Prozentrang von 31,7 ermittelt (→ mangelhafte Konzentration).
  • Vigilanz und Verarbeitungsgeschwindigkeit: Der Color Trail Test blieb im Durchschnittswert unauffällig mit Subgruppen von unauffälligen und beeinträchtigten Probanden. Es gibt aber hochsignifikante Zusammenhänge zwischen niedrigen CTT-Werten und Impulsivität (UPPS „Urgency“) und erhöhtem Risiko für Rückfall.
  • Impulsivität: Bezüglich der UPPS „Urgency“ (Impulssteuerung) und der Dimension „Verhaltensstörung und impulsives Verhalten“ der Ratingskalen zeigten sich signifikante Korrelationen mit der STGT sowie mit einem erhöhten Risiko für Rückfall bzw. vorzeitige Beendigung der Behandlung. Der durchschnittliche BIS-Wert lag mit 82 Punkten deutlich über dem Durchschnitt einer deutschen Kontrollgruppe (Preuss et al. 2007).
  • Reasoning: Der LPS Subtest 3 wurde eingesetzt, um die nonverbale Intelligenz als Einflussfaktor zu kontrollieren. Es ergab sich eine mittlere Intelligenz von 106 Punkten.

3.5 Welche biographischen Daten beeinflussen Decision Making und neuropsychologische Funktionsfähigkeit?

Als belastende Einflussfaktoren für die neuropsychologische Funktionsfähigkeit haben sich in der Studie herausgestellt:

  • ein früher Zeitpunkt des ersten Konsums von Tabak (Durchschnitt 13,27 Jahre), von Alkohol (Durchschnitt 13,88 Jahre) oder von THC (Durchschnitt 15,19 Jahre) sowie
  • lange Haftzeiten.

Ein frühes Einstiegsalter ging einher mit signifikanter bis hochsignifikanter Beeinträchtigung von Arbeitsgedächtnis, Entscheidungsverhalten, Impulskontrolle, seriellem Denken und Vigilanz. Ein besseres Abschneiden in den Tests ging einher mit den Merkmalen „Monate der Abstinenz“, „Abschluss einer Ausbildung“ und „Beschäftigung in Monaten“. „Beschäftigung“ zeitigte positive Folgen für Decision Making, Verbesserung des Arbeitsgedächtnisses, der Konzentration und Impulsivität.

3.6 Welcher Zusammenhang besteht zwischen Entscheidungsfähigkeit und Alltagsverhalten?

Zur Beantwortung werden die Ratingskalen zum Alltagsverhalten herangezogen. Mit Entscheidungsfähigkeit (STGT) korreliert hochsignifikant (0,005**) die Skala „Planen, Strukturieren und Selbstmanagement“ in der Fremdeinschätzung durch die Bezugstherapeuten. Außerdem korreliert mit der STGT signifikant (0,016*) die Skala „Umgang mit anderen Menschen“, ebenfalls in der Fremdeinschätzung durch die Bezugstherapeuten. Beide Skalen beinhalten typische Aufgaben, die den exekutiven Funktionen zugeordnet werden.

In der Selbsteinschätzung korrelieren die Skala „Freizeitverhalten“ und die Dimension „Verhaltensstörung und impulsives Verhalten“ hochsignifikant mit der STGT. Auch Category Test (CAT), TAP Arbeitsgedächtnis und TAP Go/NoGo-Task ergeben signifikante und hochsignifikante Zusammenhänge mit den Ratingskalen. Die Aussagekraft der STGT zur Entscheidungsfähigkeit wird durch ein interessantes Detail unterstrichen: Werden die Probanden nach ihren STGT-Werten in die Gruppen „beeinträchtigt“ und „nicht beeinträchtigt“ eingeteilt, so zeigt die Gruppe mit guten STGT-Werten bei ihrer Selbsteinschätzung eine hohe Übereinstimmung mit der Fremdeinschätzung der Bezugstherapeuten und sieht sich teilweise sogar kritischer. Die „Beeinträchtigten“ dagegen schätzen sich deutlich und durchweg positiver ein als die Fremdeinschätzer.

3.7 Worin unterscheiden sich Rehabilitanden mit guten Chancen auf Teilhabe von solchen mit hohem Rückfallrisiko?

Wenn wir unsere Daten daraufhin auswerteten, wie sich Rehabilitanden mit einem Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz bei Therapieabschluss von denjenigen unterscheiden, die während der Therapie rückfällig wurden und vorzeitig ausschieden, so erwiesen sich folgende Merkmale als prognostisch signifikant (*) und hochsignifikant (**):

  • Biographische Daten zur Sucht: Tagesdosis in den letzten 30 Tagen*, Abstinenzmonate*, Konsumjahre*, Einstiegsalter*, Anzahl von Entgiftungen*, Monate im Strafvollzug*, Anzahl der Therapien*
  • Biographische Daten zu Ausbildung und Arbeit: Schulabschluss/vollendete Ausbildung**, Monate in Beschäftigung*, Einkommen*
  • Neuropsychologische Tests: hochsignifikante Korrelationen von CAT**/CTT**/AG-Fehler** sowie STGT*/GNG*/AG-korrekte Antwort*
  • Items der Ratingskalen und der UPPS „Urgency“:
    1. Selbststeuerung vs. impulsives Verhalten/Überansprechbarkeit auf Drogenreize:
      Respekt vor Rückfallsituationen**, Suchtruck abschütteln* können, „Ich habe meine Gefühle so unter Kontrolle, dass sie mich nicht zu erneutem Konsum bewegen können“*; dem Verlangen widerstehen können** vs. schwer dem Drang widerstehen können**, „Manchmal tue ich impulsiv Dinge, die ich später bereue“*; ohne Überlegung handeln*, Verhaltensweisen nicht abstellen können*
    2. Depressive Emotionen vs. Fähigkeiten zur unmittelbaren Befriedigung ohne impulsive Zielkonflikte:
      „Weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll*, „Mir ist oft langweilig*, „Mich reizen riskante Sportarten* vs. „Meine Zeit verbringe ich gern mit anderen*, „Ich gehe in Vereine, Gruppen*
    3. Wahrnehmen von negativen Konsequenzen und Kritik:
      „Negative Erlebnisse bekümmern mich lange“**, Wahrnehmen harter Konsequenzen*, Fehlzeiten*, Mängel erkennen*
    4. Längerfristige Orientierung:
      auf Gesundheit achten*, auf gute Ernährung achten*

Die Items mit Vorhersagewert zeigen meist Zusammenhänge mit den Testergebnissen, z. B. korreliert das hochsignifikante Item „Nicht Widerstehen Können“ mit CAT-Error**, GNG-falsche-Reaktion**, GNG-Auslassungen*, AG-Error* und AG-Auslassungen*.

Zusammengefasst gehen folgende Verhaltensaspekte verstärkt mit Rückfall einher:

  • Überhöhte Selbstkontrollerwartung bei geringen Selbstkontrollfähigkeiten
  • Erhöhte Anregung des impulsiven Systems (Tagesdosis in den letzten 30 Tagen etc.)
  • Mangelndes Widerstehen-Können bzw. Unterdrücken von Impulsen im Alltag (z. B. Rauchen)
  • Probleme, den Kontext eines Impulses oder Gefühls zu wechseln (Perseveration von Konsumphantasien)
  • Emotionale Dysregulation unmittelbarer Belohnung zum Nachteil von Langfristigkeit
  • Mangelhafte Konzentration, Aufmerksamkeitssteuerung und mangelnde Fähigkeit zu linearem Denken

Aus den Studienergebnissen ergibt sich, dass folgende empirische Daten als Entscheidungsgrundlage für eine fundierte Risikoeinschätzung dienen können:

  • Biographische Daten zu Konsum und Teilhabe am Arbeitsleben
  • Neuropsychologische Tests zur Einschätzung der kognitiv-exekutiven und affektiv-exekutiven Fähigkeiten
  • Selbst- und ggf. Fremdeinschätzung anhand der Ratingskalen zum Alltagsverhalten und der UPPS „Urgency“
  • Ergänzend können Einstellungen erkundet werden, die zur Bewältigungskompetenz beitragen: Störungsbewusstsein und die Fähigkeit zur kritischen Selbsteinschätzung.

3.8 Die Wirksamkeit des Programmes HALT!

Die Ratingskalen zum Alltagsverhalten beschreiben acht Bereiche der Alltagsbewältigung und enthalten als neunte Skala („Steuerung des eigenen Verhaltens“) die Items der UPPS „Urgency“. Die Ratingskalen erwiesen sich als zuverlässiges und valides Messinstrument für Entscheidungsverhalten und Impulsivität im Alltag. Ein Vergleich der jeweils individuellen Messungen in der vierten und 16. Behandlungswoche zeigte, dass sich die Werte für Alltagsverhalten und Impulsivität in der Selbsteinschätzung der Probanden durchgehend verbessert haben. Die durchgehende Verbesserung des Alltagsverhaltens kann als Beleg für die Wirksamkeit der Therapie interpretiert werden.

Abb. 7: Konsistente durchschnittliche Verbesserungen in neun Aspekten des Alltagsverhaltens der Probanden in ihrer Selbsteinschätzung (N=17 bis 19 Probanden, je nach Item); die Hervorhebungen markieren signifikante bzw. hoch signifikante Veränderungen.

Abb. 7: Konsistente durchschnittliche Verbesserungen in neun Aspekten des Alltagsverhaltens der Probanden in ihrer Selbsteinschätzung (N=17 bis 19 Probanden, je nach Item); die Hervorhebungen markieren signifikante bzw. hoch signifikante Veränderungen.

4. Diskussion

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen eine Beeinträchtigung neuropsychologischer Fähigkeiten bei abhängigen Rehabilitanden in einer großen individuellen Bandbreite. Diese Beeinträchtigungen spielen eine bedeutsame Rolle für das Rückfallrisiko, für die Chance, eine Therapie zu nutzen, und die Chance auf Teilhabe. Das Entscheidungsverhalten spielt bei den untersuchten abhängigen Rehabilitanden eine hervorgehobene, aber keine alleinige Rolle. Die STGT erwies sich als valides Instrument, die Fähigkeiten zu langfristig orientiertem Alltagsverhalten und die dazu erforderlichen selbstregulierenden und orientierend suchenden Fähigkeiten zu erkennen (Baudis & Wilke 2014).

Die Untersuchung lenkt die Aufmerksamkeit auf ein vernachlässigtes Thema: auf Impulsivität als maßgeblichen Grund für neuropsychologische Beeinträchtigung. Bisher gibt es keine Therapieprogramme, die der Beeinträchtigung von Decision Making Rechnung tragen, und kaum Versuche, exekutive Funktionen und Impulsivität zu bearbeiten. Wegen ihrer Alltags- und Behandlungsrelevanz sollten aber Impulsivität und die Stärkung neuropsychologischer Fähigkeiten schon in den ersten Wochen einer Suchttherapie fokussiert werden.

Das Programm HALT! und das Manual „Die Kunst des Entscheidens“ können daher nicht mit anderen Ansätzen verglichen werden. Das psychoedukative Manual „Die Kunst des Entscheidens“ greift die hier gefundenen Ergebnisse und Anregungen auf, um die Aufmerksamkeit von Therapeuten und Rehabilitanden auf die Bewältigung von Überansprechbarkeit und auf eine langfristige Orientierung zu lenken. Um das Training in den Alltag hineinzutragen, wurde eine Smartphone-App entwickelt. Einen direkten Nachweis, dass ein Training von Entscheidungsfähigkeit die Alltagsbewältigung verbessert, konnte die Untersuchung von ihrer Anlage her nicht leisten, wenn sie auch Veränderungen in die gewünschte Richtung aufzeigt.

Unsere Untersuchungen legen nahe, die bisherige Leistungsplanung in der Rehabilitation zu überdenken. Eine empirisch fundierte Risikoeinschätzung ermöglicht die Wahl geeigneter individueller Rehastrategien: Diejenigen Suchtkranken, die neuropsychologisch erheblich beeinträchtigt sind, benötigen eine stabilisierende langfristige Rehastrategie, die den Bedarf an emotionaler und sozialer Stabilisierung mit langfristigen Maßnahmen zur sozialen und beruflichen Teilhabe und Suchtbewältigung angeht, begleitet durch einen persönlichen Reha-Coach. Dagegen können Rehabilitanden mit guten Teilhabechancen von einer konsequent lebensfeldbezogenen Rehastrategie profitieren, die die Alltagsfähigkeiten fördert und ambulant (Tagesreha und ambulante Reha) orientiert ist. Eine stützende sozialintegrative Rehastrategie in Form einer Kombination aus stationärer Reha, tagesklinischer oder ambulanter Reha und integrierten Maßnahmen zur beruflichen Teilhabe könnte ein mittlerer Weg sein.

Medizinische Substitution sollte sich im Hinblick darauf evaluieren, ob sie die neuropsychologischen Fähigkeiten zur Alltagsbewältigung und Teilhabe gefährdet (Baudis 2014a) oder ob sie sich ihren Erhalt zum Ziel gesetzt hat. Dazu ist ein niedrig dosiertes Substitutionsregime als Behandlungsoption erforderlich.

Hinweis: Im Juni 2015 bietet der Autor einen Intensivkurs zum Arbeiten mit dem HALT!-Programm und dem Therapiemanual „Die Kunst des Entscheidens“ an. Der Kurs richtet sich an therapeutische, pflegerische und ärztliche Mitarbeiter/-innen in der Suchthilfe. Die Teilnahme am Kurs wird durch ein Zertifikat bestätigt. Mehr Informationen dazu finden Sie hier.

Wissenschaftliche Begleitung der Studie:
Jürgen Wilke (Dipl.-Psychologe), Fraunhofer Institut IAO, Nobelstraße 12, 70569 Stuttgart

Angaben zum Autor:

Rainer Baudis, Jahrgang 1949, ist Dipl.-Psychologe/Psychotherapeut und war lange Jahre Gesamtleiter der Reha-Einrichtungen Four Steps. Aktuell ist er in eigener psychotherapeutischen Praxis tätig. Er ist Autor von Fachbüchern zur Behandlung von Abhängigkeit.

Kontakt:

Rainer Baudis
Mittelfeldstraße 8
73635 Rudersberg
baudis@mac.com

Literatur:
  • Baudis & Wilke: Entwicklung und Evaluation eines Verfahrens zur Verbesserung der mittelfristigen Verhaltenssteuerung bei Substanzmittelabhängigkeit – Abschlussbericht Teil I und II, 2014
  • Baudis: Abhängigkeit und Entscheiden – Handbuch, Verlag für Psychologie, Sozialarbeit und Sucht, 2014a
  • Baudis: Die Kunst des Entscheidens, Verlag für Psychologie, Sozialarbeit und Sucht, 2014b
  • Bechara, Damasio: Decision-making and addiction (part I): impaired activation of somatic states in substance dependent individuals when pondering decisions with negative future consequences, Neuropsychologia, 40, 2002, 1675-89
  • Bechara et al.: Decision-making and addiction (part II): myopia for the future or hypersensitivity to reward?, Neuropsychologia, 40, 2002:1690-1705
  • Bechara: Decision-making, impulsive control and loss of willpower to resist drugs: a neurocognitive perspective, Nature Neuroscience, 2005, 8, 11, 1458-1463
  • Bolla et al.: Dose-related neurobehavioral effects of chronic cocaine use, J of neuropsychiatry and clinical neurosciences, 1999, 11: 261-369
  • Bolla et al.: Dose-related neurocognitive effects of marijuana use, Neurology, 59, 9, 2002, 137-143
  • Klingberg: Training and plasticity of working memory, Trends in Congitive Science 14, 2010, 317-324
  • Passetti, Clark et al.: Neuropsychological predictors of clinical outcome in opiate addiction, Drug and Alcohol Dependence, 2007, Elsevier
  • Paulus et al.: Neural activation patterns of methamphetamine-dependent subjects during decision making predicts relapse, Arch Gen Psychiatry, 62, 2005, 761 ff
  • Preuss et al.: Psychometrische Evaluation der deutschsprachigen Version der Barratt-Impulsiveness-Skala, Der Nervenarzt, 2007
  • Robertson, Murre: Rehabilitation of brain damage: Brain plasticity and principles of guided recovery, Psychological Bulletin, 125, 5, 1999, 544-575
  • Verdejo-Garcia, Perez-Garcia, Bechara: Emotion, decision-making and substance dependence: A somativ-marker model of addiction, Current Neuropharmacology, 2006, 4, 17-31
  • Zelaszo, Cunningham: Executive Function: mechanism underlying emotion regulation. Handbook of Emotion Regulation, Guilford Press, New York, 2007, S. 135-158