Stefanie Gellert-Beckmann

Fachliche Potenziale des Bundesteilhabegesetzes für die Suchthilfe

Einleitung

Im Zuge der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) sind die Leistungserbringer der Eingliederungshilfe (EGH) aktuell mit der Umstellung auf das neue Leistungssystem beschäftigt. Dies umfasst die Neujustierung der Fachkonzepte, die Schulung der Mitarbeitenden und die Prozessorganisation in den Angeboten. Diese Umstellung beinhaltet zwangsläufig auch die Auseinandersetzung mit den reformierten behinderungspolitischen Leitideen.

Für die Suchthilfe bietet dieser Prozess verschiedene fachliche Gestaltungsoptionen. Es besteht die Chance, arbeitsfeldspezifische Paradigmen wie die Abstinenzorientierung neu zu bewerten und die Praxis der Suchthilfe durch die systematische Implementierung von fachlichen Konzepten und Verfahren weiter zu professionalisieren. Hierbei kann der Fokus um zeitgemäße partizipative und sozialräumliche Ansätze erweitert werden. Die Entwicklungen lassen sich für die gezielte Vernetzung mit relevanten Akteuren nutzen und auf andere Segmente der Suchthilfe jenseits der EGH und weitere Bereiche des Gesundheits- und Sozialwesens übertragen.

Grundsatz Selbstbestimmung

Ein zentraler Grundsatz des BTHG bezieht sich auf das Recht auf Selbstbestimmung. Gemäß § 8 SGB IX lassen Leistungen, Dienste und Einrichtungen „den Leistungsberechtigten möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände und fördern ihre Selbstbestimmung“. Laut Beyerlein (2021) bedeutet Selbstbestimmung als gesetzliches Ziel, „die Betroffenen bei der Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in ihrer Persönlichkeit zu achten und dementsprechend zu handeln und sie darüber hinaus zu aktivieren und in die Lage zu versetzen, autonom darüber zu entscheiden, in welcher Weise die gleichberechtigt Teilhabe stattfinden soll“ (S. 21). In der Suchthilfe ist der Umgang mit Selbstbestimmung elementar im Hinblick auf das Abstinenzpostulat, das trotz vorliegender alternativer Therapieansätze wie die Trinkmengenreduktion vielfach noch vorherrscht. Die Kritik, dass Abstinenz als vorgegebenes Behandlungsziel nicht dem Willen vieler Betroffener entspreche und zudem autonomieverletzend sei (vgl. Körkel 2002; Körkel und Nanz 2016), trifft ins Mark des Selbstbestimmungsgrundsatzes im BTHG. Dies erfordert insbesondere von hochschwellig ausgerichteten Anbietern bei der Erarbeitung der Fachkonzepte eine intensive Auseinandersetzung mit der fachlich-therapeutischen Haltung des Trägers und seiner Mitarbeitenden. Nur auf konzeptionell geklärter Grundlage ist der Rechtsanspruch auf selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Substanzkonsumstörungen umsetzbar.

Grundsatz Partizipation

Zu den wesentlichen Prinzipien des BTHG zählt die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe, die sich aus dem Partizipationsbegriff ableitet und soziales Einbezogensein, politische Beteiligung und Einflussnahme auf zentrale Entscheidungen in diesen Lebensbereichen beinhaltet (vgl. Rambausek-Haß und Beyerlein 2018). Hieraus ergeben sich Aufgaben für die Arbeit mit Menschen mit Substanzkonsumstörungen, die sich auf ressourcenorientierte Befähigungsleistungen und die partizipative Weiterentwicklung der Angebote beziehen und eng mit den fachlichen Grundlagen, wie z. B. einer Ausrichtung am Recovery-Ansatz, verbunden sind.

Partizipation bezieht sich auf die aktive Einbeziehung der Betroffenen in Entscheidungsprozesse, die sie selbst betreffen (wie Bedarfsermittlung, Vereinbarung von Zielen und Teilhabeplanung), und ihre Beteiligung an der Entwicklung der Strukturen, in die sie eingebunden sind (z. B. Angebote der Suchthilfe sowie sozialräumliche, kommunale und weitere Entwicklungen und Entscheidungen). Sowohl in der EGH als auch in der Suchthilfe gilt Partizipation als ein Prozess, der an vorhandene Ressourcen und bisherige Erfahrungen gebunden ist. Damit Beteiligung als sinnvoll und attraktiv bewertet werden kann, müssen Befähigungsleistungen ggf. vorgeschaltet werden (vgl. Mattern et al. 2023). Zentrale Grundlage zur Umsetzung von Partizipation sind eine Empowerment-geleitete fachliche Haltung der Mitarbeitenden und eine beteiligungsorientierte Ausrichtung der Organisation. Beides kann z. B. durch methodische Anleihen bei dem Projekt „Hier bestimme ich mit – Ein Index für Partizipation“ (vgl. BeB – Der evangelische Fachverband für Teilhabe 2020; 2021) weiterentwickelt werden.

Leitkriterium Sozialraumorientierung

Eng mit Partizipationsprozessen ist die Sozialraumorientierung (SRO) verbunden, die als neues Leitkriterium in das SGB IX eingeführt worden ist. Sie lässt sich mit Hilfe des sozialarbeitswissenschaftlichen Fachkonzepts SRO operationalisieren. Das Konzept ist ein mehrdimensionaler Theorie- und Handlungsansatz und fußt auf den drei Handlungsebenen der fallspezifischen, fallübergreifenden und fallunspezifischen (personenunabhängigen) Ebene (vgl. Hinte 2019; 2020). Es lässt sich um die organisatorische Ebene der Leistungserbringer erweitern und stellt eine umfassende Sammlung an Methoden und Techniken zur Verfügung (vgl. Früchtel et al. 2007a; 2007b), die auch in der Suchthilfe einsetzbar sind.

Zu den wesentlichen Handlungsprinzipien der Sozialraumorientierung zählen:

  • die Ausrichtung am Willen und den Interessen der Betroffenen,
  • die Stärkung von Eigeninitiative und Selbsthilfe,
  • die Fokussierung der personellen und sozialräumlichen Ressourcen,
  • zielgruppen- und bereichsübergreifende Aktivitäten und
  • die Kooperation und Vernetzung mit Fachdiensten, umgebenden Einrichtungen und weiteren Akteur:innen etc. im Quartier.

Die Ausrichtung am Willen der Betroffen und der Sozialraum- und Lebensweltbezug im sozialarbeitswissenschaftlichen Fachkonzept decken sich mit den Kriterien des Gesamtplanverfahrens inkl. der Bedarfsermittlung nach § 117 SGB IX. Diese Passung bezieht sich auch auf die Haltung. Zur Umsetzung der Sozialraumorientierung ist eine ressourcenorientierte Haltung jenseits paternalistischer Fürsorge erforderlich, die der im BTHG formulierten Erwartung des Gesetzgebers an die professionelle Beziehungsgestaltung und Rollenklarheit bei den Mitarbeitenden entspricht: „Der Begriff der Assistenz bringt in Abgrenzung von förderzentrierten Ansätzen der Betreuung, die ein Über-/ Unterordnungsverhältnis zwischen Leistungserbringern und Leistungsberechtigten bergen, auch ein verändertes Verständnis von professioneller Hilfe zum Ausdruck“ (BT-Drucks. 18/9522, S. 261). Durch die zielorientierte Vernetzung und Kooperation zur wirksamen Leistungserbringung kann das Konzept einen wesentlichen Beitrag zur Entsäulung innerhalb der Suchthilfe leisten.

Anforderungen an Qualität und Wirksamkeit der EGH im Vertragsrecht

Das Vertragsrecht der EGH sieht vor, dass bei der Umstellung auf das neue Leistungssystem für alle Angebote Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen abgeschlossen werden, die Inhalt, Umfang, Qualität, Wirksamkeit und Vergütung der Leistungen regeln. Referenzrahmen der Vereinbarungen sind die neuen Fachkonzepte, die gemäß Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS 2021) die fachliche Ausrichtung der Suchthilfe-Angebote beschreiben und Wirkannahmen für die angebotenen Leistungen sowie Qualitätsstandards enthalten sollen, um die „qualitative Leistungserbringung, Fachlichkeit und Sinnhaftigkeit der Maßnahme“ (BAGüS 2021, S. 12) zu gewährleisten.

Die wirksamkeits- und qualitätsfokussierte Ausrichtung der EGH ermöglicht nun die finanzielle Berücksichtigung von Ansätzen und Verfahren der Suchthilfe, die früher in der Regel als im weitesten Sinne therapeutisch und daher nicht EGH-konform abgelehnt worden sind. Die verbindliche Umsetzung der Fachkonzepte ist im Kontext der sanktionsbewehrten Prüfungen nach § 128 SGB IX von den Leistungserbringern sicherzustellen. Das erforderliche regelmäßige Qualitätsmonitoring wird professionalitätssteigernde Effekte mit sich bringen. Dazu trägt auch die Vorgabe bei, dass sich sämtliche Merkmale des fachlichen Handelns in der Dokumentation der Leistungserbringung und in der reflektierten Ergebnisqualität zeigen müssen (vgl. BAGüS, S. 13). Dies wiederum setzt geschulte Mitarbeitende voraus, die sich mit den fachlichen Grundlagen auseinandergesetzt haben.

Exkurs: Potenziale des Vertragsrechts für die Psychosoziale Begleitung von substituierten Opioidabhängigen (PSB)

Mit Herauslösung der EGH aus dem Sozialhilferecht werden die Leistungen auf Antrag gewährt und sind mit neuen Verwaltungsverfahren und Zugangswegen ins System verbunden. Diese können für Teilgruppen der Anspruchsberechtigten zu hochschwellig sein und de facto den Ausschluss von der Leistung bedeuten. Diese Situation trifft für substituierte Opioidabhängige und das spezifische Angebot PSB in den Fällen zu, in denen es über die EGH finanziert wird. Die besonderen Bedarfe des Personenkreises und die organisatorischen Anforderungen an die Leistungserbringer lassen sich unter den administrativen und ökonomischen Rahmenbedingungen des neuen Leistungsrechts für das Gros der Betroffenen nicht abbilden. Das Vertragsrecht enthält jedoch Optionsrechte gemäß § 125 Abs. 3 Satz 4 SGB IX und § 132 SGB IX, auf deren Grundlage die PSB als personenorientierte und wirksame Leistung der EGH konfigurierbar wird (vgl. Gellert-Beckmann 2022). Da die Anwendung der Optionsrechte als Kann-Regelung im Ermessen der Leistungsträger liegt, besteht für die Leistungserbringer kein Anspruch auf ihre Nutzung. Dieser lässt sich aus der Perspektive der Leistungsberechtigten jedoch aus deren Recht auf diskriminierungsfreie Angebote und Zugänge aus den Artikeln 3, 4, 19, 25 und 26 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ableiten.

Fachliche Grundlagen für die Umsetzung des BTHG

Für die Leistungskonzeptionierung und -erbringung in der geforderten Qualität ist der Rückgriff auf fachlich bzw. wissenschaftlich anerkannte Verfahren und Konzepte notwendig, die insbesondere in S3-Leitlinien dargestellt werden. Geeignete psychosoziale Interventionen, die mit den Rehabilitationszielen der EGH kompatibel sind, finden sich in der S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen (DGPPN 2018). Sie sind auf die psychiatrische Teilgruppe der Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen übertragbar (vgl. Gellert-Beckmann 2023a). Aus den suchtspezifischen Leitlinien lassen sich im Vergleich dazu weniger geeignete evidenzbasierte Ansätze in Bezug auf die Reha-Leistungen der EGH entnehmen, deren Umsetzungsmöglichkeit im Rahmen des BTHG analysiert und bestätigt worden ist (Gühne und Konrad 2019).

Die psychosozialen Interventionen aus der S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen zielen auf psychische und physische Stabilisierung, die Aktivierung von Motivation und Ressourcen und die Entwicklung von Fähigkeiten für eine weitestgehend selbstständige und eigenverantwortliche Lebensführung. Für die Erstellung der Fachkonzepte und die Festlegung auf fachliche Grundlagen bieten sie eine Vielzahl konkreter Verfahren, die sich mit weiteren suchthilfespezifischen Ansätzen verbinden lassen.

Zentrale Ansätze der Leitlinie sind Recovery und Empowerment, die für das praktische Handeln operationalisiert und in der Arbeitsorganisation verankert werden müssen. Recovery-Elemente umfassen z. B. eine partnerschaftlich-professionelle und autonomiefördernde Arbeitsbeziehung und einen stärkenorientierten Ansatz, der die Klient:innen bei der (Wieder-)Entdeckung ihrer Ressourcen unterstützt. Angestrebt wird die Förderung von Selbstbestimmung, sozialer und beruflicher Teilhabe sowie der (Bürger:innen-)Rechte (DGPPN 2018, S. 52). Die Recovery-Prinzipien sind in die Angebotsstrukturen und Ablauforganisation einzubetten. Sie müssen für die Klient:innen erfahrbar und auch für die Mitarbeitenden greifbar werden in Form von Leistungen, die systematisch die Partizipation der Klient:innen integrieren und somit einen Bogen zu den Zielen des BTHG spannen.

Die S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen enthält Schnittstellen zu den evidenzbasierten suchthilfespezifischen Verfahren Motivational Interviewing und Community Reinforcement Approach sowie zu allen suchthilfespezifischen Verfahren, die mit dem Empowerment-Ansatz assoziiert sind. Empowerment zielt als wichtiger Bestandteil von Recovery auf die Förderung von Selbstbefähigung, Eigeninitiative und Selbsthilfe – Kompetenzen, die in der Suchthilfe in Form von Selbsthilfegruppen, Lotsenkonzepten und Peer-Support unterstützt werden. Gemäß Leitlinien-Empfehlung ist Selbstmanagement „ein bedeutender Teil der Krankheitsbewältigung und sollte im gesamten Behandlungsprozess unterstützt werden“ (DGPPN 2018, S. 65). Selbstmanagement in der Suchthilfe umfasst Trainingsprogramme wie Psychoedukation, Konsumreduktionsprogramme wie Kontrolliertes Trinken und Kontrolle im selbstbestimmten Konsum, Rückfallprophylaxe und Training sozialer Fertigkeiten.

Eine wesentliche Grundlage sowohl der Leitlinie als auch der Suchthilfe und der EGH stellt die professionelle Beziehungsgestaltung dar. Deren Qualität ist Bestandteil anderer Ansätze, z. B. des Wirkfaktorenmodells nach Grawe (vgl. DGPPN 2018, S. 58). Dieses Konzept fokussiert darüber hinaus Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, motivationale Klärung und Befähigung zur Problembewältigung, die wiederum an den Befähigungsaspekt des neuen Leistungstatbestands der qualifizierten Assistenzleistung im SGB IX anschließt.

Mit der partizipativen Entscheidungsfindung sollen die Rechte auf Autonomie und Selbstbestimmung respektiert und die aktive Beteiligung an der Behandlungsgestaltung im Recovery-Prozess sichergestellt werden (vgl. DGPPN 2018). Ein Anknüpfungspunkt zu dieser Recovery-Orientierung besteht u. a. für das Konzept der Zieloffenen Suchtarbeit nach Körkel.

Für Suchthilfe-Angebote bietet sich an, die konzeptionelle Berücksichtigung von Case Management im Kontext der Assistenz zur persönlichen Lebensplanung gemäß § 78 Abs. 1 SGB IX zu prüfen und zielgruppenspezifisch auszuformen. Hierfür steht exemplarisch das Modellprojekt „Alters-CM3“ für die Arbeit mit älteren Drogenkonsument:innen (Schmid 2018). Das Modell verknüpft „Motivational Case Management“ (Case Management, das Motivational Interviewing methodisch integriert) mit Elementen eines stärkenorientierten Ansatzes und der „Problem Solving Therapy“. Somit lassen sich Verbindungen zu Recovery und zum Graw’schen Wirkfaktorenmodell herstellen.

Als Basisleistung für die Bereiche „Navigation zur Strukturierung der Lebensgestaltung, Erschließung weiterer notwendiger Sozialleistungen, Krisenplanung“ (Konrad 2020, S. 29) kann Case Management von der Suchthilfe genutzt werden, um sozialarbeiterische Expertise im Bedarfskontext der Zielgruppe zu begründen.

Aufgrund der hohen Prävalenz somatischer und psychiatrischer Komorbiditäten bei Substanzkonsumstörungen sollten auch Leistungen zum Lebensbereich Gesundheit im Hinblick auf die Bewältigung der zusätzlichen Erkrankungen regelhaft angeboten werden. Ein Mindestmaß an Gesundheit ist Voraussetzung für Teilhabe und unabdingbar für Lebensqualität und das Vermeiden vorzeitiger Mortalität. Gesundheitsbezogene Interventionen und Angebotsstrukturen und -prozesse auf System- und Einzelfallebene lassen sich in der EGH mit dem von der Dt. Vereinigung für Rehabilitation erarbeiteten Konzept der Gesundheitssorge (vgl. DVfR 2021) für die Suchthilfe entwickeln (vgl. Gellert-Beckmann 2023b). Das Konzept ist hilfreich für die Bedarfsermittlung, die individuelle Maßnahmenplanung und die organisationsstrukturelle Implementierung entsprechender Angebote. Hierzu zählen psychoedukative Trainings, das Schaffen von Zugängen zu Informationen und Angeboten, spezifische Fortbildung der Mitarbeitenden, Gruppenangebote zur Förderung der Gesundheitskompetenz und personenunabhängige Sozialraumarbeit zur Etablierung einer gesundheitskompetenzförderlichen Umgebung (vgl. AOK 2021).

Ein Großteil der Verfahren ist über die EGH hinaus auch in anderen Settings der Sucht- und Drogenhilfe wie Beratungs- und Kontaktstellen einsetzbar.

Neue Verfahrensregelungen im SGB IX

Chancen für eine bessere Zusammenarbeit liegen auch in den neuen Verfahrensregelungen im Teil 1 des SGB IX für die Reha-Träger. Letztere sollen durch koordiniertes Handeln schnelle und wirkungsvolle Rehabilitationsleistungen ermöglichen. Die optimierte Kooperation der Leistungsträger soll unter Einbezug der weiteren Prozessbeteiligten erfolgen, da die übergreifende Zusammenarbeit als erfolgskritische Voraussetzung der Rehabilitation gilt. In der „Gemeinsamen Empfehlung Reha-Prozess“ (BAR 2019) sind in § 3 die beteiligten Akteure aufgelistet, die Einrichtungen und Dienste der Suchthilfe umfassen. Zu entwickeln sind mit den relevanten Beteiligten „verbindliche Strukturen, die ein regelhaftes und verlässliches System zum Informationsaustausch und zur Zusammenarbeit sicher stellen, das der möglichst frühzeitigen Erkennung eines Teilhabebedarfs und Einleitung von Leistungen zur Teilhabe dient“ (§ 16 Abs. 3 GE Reha-Prozess).

Werden die in der Gemeinsamen Empfehlung formulierten Vorgehensweisen realisiert, profitieren einerseits Menschen mit Substanzkonsumstörungen von den vom Gesetzgeber angestrebten Verbesserungen, da sämtliche Leistungsgruppen gemäß § 5 SGB IX für sie relevant sein können. Andererseits lassen sich für die Suchthilfe und die angrenzenden Arbeitsfelder systematisch Vernetzungspotenziale heben, die zusammen mit den oben dargestellten Konzeptansätzen eine neue konstruktive Grundlage schaffen für die Überwindung von Schnittstellenproblemen (vgl. DHS 2019, S. 5).

Kinder von suchtkranken Eltern

Die Assistenzleistungen gemäß § 78 SGB IX umfassen auch Leistungen an Mütter und Väter mit Behinderungen bei der Versorgung und Betreuung ihrer Kinder. Mittels pädagogischer Anleitung, Beratung und Begleitung sollen Eltern mit Abhängigkeitserkrankungen unterstützt werden, um ihrer Elternrolle gerecht zu werden und z. B. die Grundbedürfnisse ihres Kindes wahrzunehmen, zu verstehen und ihnen nachkommen zu können (vgl. BMAS 2018, S. 44). Es lassen sich Angebote der begleiteten Elternschaft entwickeln, die in Modellprojekten erprobt worden sind (vgl. AFET-Bundesverband für Erziehungshilfe e. V. 2019; Dachverband Gemeindepsychiatrie 2019).

Ausblick

Die Potenziale des BTHG und der reformierten EGH lassen sich für weitere Bereiche der Suchthilfe nutzen. Der systematische fachliche Fokus als Folge der Qualitäts- und Wirksamkeitsanforderungen in der EGH erfordert finanzielle Ressourcen, die zunächst zu verhandeln und in Umsetzung zu bringen sind. Als Professionalisierungstreiber kann er für die Weiterentwicklung anderer sozialarbeiterischer Tätigkeitsfelder und Angebote in der Suchthilfe genutzt werden, die sich der Kritik häufig fehlender fachlicher Standards der Leistungserbringung stellen müssen (vgl. Arendt 2019). Auch die Auseinandersetzung mit den Prämissen der UN-BRK und des BTHG und die Übersetzung der menschenrechtsbasierten und behinderungspolitischen Grundlagen in fachliches Handeln kann den Fachdiskurs über die EGH hinaus bereichern, zumal die UN-BRK als mächtiger Hebel für die Durchsetzung von Rechtsansprüchen im Diskriminierungskontext Chancen für die Arbeit mit Menschen mit Substanzkonsumstörungen enthält, die noch lange nicht aufgegriffen sind.

Kontakt und Angaben zur Autorin:

Stefanie Gellert-Beckmann ist Geschäftsführerin der Suchthilfe Wuppertal gGmbH,
Hünefeldstr. 10a, 42285 Wuppertal.
www.sucht-hilfe.org
stefanie.gellert-beckmann(at)sucht-hilfe.org

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