In Deutschland versterben jeden Tag 25 Menschen durch Suizid
Anlässlich des Weltsuizidpräventionstages am 10. September macht die „Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention“ darauf aufmerksam, dass in Deutschland aktuell täglich 25 Menschen einen Suizid und schätzungsweise 500 Personen einen Suizidversuch begehen. Die aktuell diskutierten Neuregelungen zum assistierten Suizid könnten die Suizidzahlen in Folge noch einmal erhöhen. Verstärkte Bemühungen im Bereich der Suizidprävention sind nötig. Der in Deutschland entwickelte 4-Ebenen-Ansatz der Bündnisse gegen Depression ist laut eines neueren systematischen Reviews der weltweit beste und am häufigsten implementierte Interventionsansatz zur Prävention suizidaler Handlungen.
Mehrheit der Suizide erfolgt im Kontext psychischer Erkrankungen
2021 verstarben in Deutschland 9.215 Menschen durch Suizid – das sind mehr Menschen als im Verkehr (ca. 2.900), durch Drogen (ca. 1.800) und durch AIDS (ca. 220) zu Tode kommen (Statistisches Bundesamt, 2021). Die Zahl der Suizidversuche wird mehr als 20-mal so hoch geschätzt.
Suizide erfolgen fast immer vor dem Hintergrund einer nicht optimal behandelten psychischen Erkrankung, am häufigsten einer Depression. „Die überwältigende Mehrheit der Suizide in Deutschland sind keine Freitode, sondern die tragische Folge schwerer psychischer Erkrankungen. So geht Depression mit großem Leiden und tiefer Hoffnungslosigkeit einher. Bestehende Probleme werden in der Depression vergrößert und als unlösbar wahrgenommen. In ihrer Verzweiflung sehen Menschen dann im Suizid den einzigen Weg, diesem unerträglichen Zustand zu entkommen“, erklärt Prof. Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention. Die konsequente und leitlinienkonforme Behandlung der Depression und anderer psychischer Erkrankungen ist zentraler Baustein jeder Suizidprävention. Ansprechpartner sind Psychiater, Psychologische Psychotherapeuten und Hausärzte.
In den letzten 40 Jahren hat sich die Zahl der Suizidopfer halbiert. „Der Rückgang der Suizide dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass mehr Menschen mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen sich Hilfe holen und eine Diagnose bzw. Behandlung erhalten“, so Prof. Ulrich Hegerl, der auch die Senckenberg-Professur an der Universität Frankfurt am Main inne hat. Aufgrund von Wissensdefiziten, Stigmatisierungen, der krankheitsbedingten Antriebs- und Hoffnungslosigkeit sowie vor allem auch Defiziten im Gesundheitssystem bestehen jedoch weiter große Versorgungslücken. „Es ist völlig inakzeptabel, dass ein suizidgefährdeter Mensch oft erst nach Wochen einen Facharzttermin bekommt“, so Hegerl weiter.
Neuregelungen zum assistierten Suizid
Über die gesetzliche Neuregelung zum assistierten Suizid soll sichergestellt werden, dass es zuverlässige Hilfsangebote für ein selbstbestimmtes Sterben gibt. Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention sieht in Verbindung mit diesen Neuregelungen auch Risiken:
„Eine verantwortungsvolle und schwierige Aufgabe wird darin bestehen, sicherzustellen, dass die Entscheidung, sterben zu wollen, tatsächlich freiverantwortlich getroffen wurde und nicht Folge einer verzerrten Wirklichkeitswahrnehmung durch die schwarze Brille der Depression ist. Problematisch ist auch, dass das Bundesverfassungsgerichtsurteil eine Normalisierung des Suizids befördern könnte. Ich habe viele depressiv erkrankte Menschen betreut, die ihre depressive Krankheitsphase nur überlebt haben, weil das Tabu sie vom Suizid abgehalten hat. Sie wollten das ihrer Familie nicht antun. Wird Suizid zu einer jedem offenstehenden Option, so kann dies die oft lebensrettende Schwelle für suizidales Verhalten senken und zu einem Anstieg auch der nicht-assistierten, krankheitsbedingten Suizide führen“, befürchtet Hegerl.
In den Niederlanden sind im Zuge der Liberalisierung der Sterbehilfe pro Jahr nicht nur um die 6.000 Menschen durch einen assistierten Suizid aus dem Leben geschieden, sondern entgegen der Erwartung nahmen auch die Raten für die einsamen, nicht-assistierten Suizide zu. Dieser Anstieg stand im Gegensatz zu der positiven Entwicklung der Suizidraten in fast allen anderen europäischen Ländern.
Wie Suizidprävention gelingen kann: international etablierter 4-Ebenen-Ansatz
Der von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention unter Leitung von Prof. Ulrich Hegerl entwickelte 4-Ebenen-Interventionsansatz hat sich als ein wirkungsvolles Instrument im Kampf gegen Suizidversuche und Suizide gezeigt. Es ist zudem das weltweit am häufigsten implementierte Suizidpräventionsprogramm. Der 4-Ebenen-Ansatz verbindet zwei Ziele: die bessere Versorgung von Menschen mit Depression und die Prävention von Suiziden sowie Suizidversuchen. In einer umschriebenen Region (Stadt, Gemeinde) werden dafür gleichzeitig Interventionen auf vier Ebenen gestartet:
- Kooperation mit Hausärzten (u.a. Schulungen)
- Öffentlichkeitsarbeit (z.B. Plakatkampagne, öffentliche Veranstaltungen)
- Schulungen von Multiplikatoren (z.B. Pfarrer, Lehrer, Journalisten, Altenpflegekräfte, Polizisten)
- Unterstützung für Betroffene und deren Angehörige, u.a. durch Informationsmaterialien, die Förderung der Selbsthilfe und das digitale Selbstmanagement-Programm iFightDepression (tool.ifightdepression.com/).
Dieser Ansatz wurde zudem in zahlreichen europäischen und außereuropäischen Ländern (Australien, Neuseeland, Kanada und Chile) übernommen.
Eine neue systematische Überblicksarbeit zu Ansätzen der Suizidprävention von Linskens et al. (2022) kommt zu dem Schluss, dass die 4-Ebenen-Intervention zur Suizidprävention am vielversprechendsten von allen untersuchten Ansätzen ist. „Bisher werden diese lokalen Bündnisse zur Suizidprävention durch Bürgerengagement, Ehrenamt und Spenden getragen. Äußerst hilfreich wäre es, wenn diese gerade vor dem Hintergrund der gesetzlichen Neuregelungen zum assistierten Suizid eine staatliche Förderung erhalten würden“, so Hegerl.
Originalpublikationen:
- Hegerl, U., Heinz, I., O’Connor, A., & Reich, H. (2021). The 4-Level Approach: Prevention of Suicidal Behaviour Through Community-Based Intervention. Front. Psychiatry, 12: 760491.
- Hegerl, U., Maxwell, M., Harris, F., Koburger, N., Mergl, R., Székely, A., Arensman, E. [ … ], on behalf of The OSPI-Europe Consortium (2019). Prevention of suicidal behaviour: Results of a controlled community-based intervention study in four European countries. PLoS ONE, 14(11): e0224602.
- Linskens, E. J., Venables, N. C., Gustavson, A. M. […] (2022). Population- and community-based interventions to prevent suicide: A systematic review. Crisis, 44(4), 330-340.
Weitere Informationen:
International Association for Suicide Prevention
Pressestelle der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, 7.9.2023