Andrea Hardeling

Digitalisierung in der Suchtberatung

Andrea Hardeling

Die Notwendigkeit, digitale Angebote für suchtkranke Menschen zu entwickeln, wurde bereits vor einigen Jahren erkannt. Beratungsangebote per Mail und per Chat wurden von einzelnen Verbänden und Trägern der Suchthilfe konzipiert und umgesetzt. Im Januar 2020  verabschiedeten Fachkräfte aus unterschiedlichen Bereichen der Suchthilfe (Verwaltung, Träger, Verbände, Fachverbände) gemeinsam die Essener Leitgedanken zur digitalen Transformation in der Suchthilfe.

Nur wenige Wochen später hat die Corona-Pandemie die Herstellung eines Bewusstseins für einen Bedarf an digitalen Angeboten ungeahnt beschleunigt. Der Lockdown sorgte dafür, dass in Suchtberatungsstellen großer Träger zunehmend digitale Beratungsangebote per Mail oder Chat eingerichtet und erprobt wurden, während kleine Träger weder auf Ressourcen noch auf Know-how zur Einführung von Onlineangeboten zurückgreifen konnten.

Ambulante Suchtberatung – das Verhältnis von regional und digital

Ist Suchtberatung entweder regional oder digital? Bisher ist beides zusammen nur in wenigen Regionen Deutschlands möglich. Ratsuchende finden gerade im ländlichen Raum keine Suchtberatungsstellen in der Nähe, die sowohl Online- als auch persönliche Gespräche anbieten. Stattdessen sind – neben einigen bundesweiten digitalen Suchtberatungsangeboten großer Verbände – immer noch kostenpflichtige Beratungsangebote im Ergebnis der Suchmaschinenrecherche sehr prominent sichtbar. Engagierte selbständige Berater:innen, entweder ausgebildete Fachkräfte mit einem einschlägigen Studium oder Betroffene mit eigenen Erfahrungen, bieten auf ansprechend programmierten Webseiten kostenpflichtige Beratung an. Die Terminvereinbarung für telefonische oder Videoberatung kann z. T. gleich digital erfolgen, ebenso die Online-Bezahlung der Beratungsleistung.

Damit bieten die privaten Dienstleister in der Regel sehr viel einfacher eine Onlineberatung (als Dienstleistung) an, als das bei den gemeinnützigen Trägern zu finden ist. Private Dienstleister werben damit, ohne Wartezeit, sicher und anonym Beratung durchführen zu können. Attraktiv gestaltete Webseiten präsentieren, zum Teil mit schönen Bildern, wer berät und welche Leistungen buchbar sind.

Die Webseiten gemeinnütziger Träger der Suchthilfe bieten in der Regel keine sofortige Terminvereinbarung an, eine Onlineberatung, die wohnortnah mit der regionalen Suchtberatungsstelle verknüpft ist, wird in der Regel nicht in der einfachen Suchtmaschinenrecherche angezeigt.

DigiSucht – bundesweit, digital und regional

Mit Start des Bundesmodellprojektes DigiSucht wurde von der delphi GmbH ab August 2020 mit Finanzierung durch das Bundesgesundheitsministerium die Konzeption einer trägerübergreifenden digitalen Beratungsplattform für die kommunale Suchtberatung entwickelt. Die Konzeptentwicklung wurde von Verbänden, Landesstellen und regionalen Suchtberatungsstellen unterstützt und begleitet.

Ab September 2022 werden erste Beratungsstellen die neu entwickelte Plattform im Modellbetrieb testen, bevor sie im ersten Quartal 2023 für alle Bürger:innen zugänglich gemacht wird. Ziel ist es, Ratsuchenden damit bundesweit Online-Suchtberatung anbieten zu können – verbunden mit der Möglichkeit des blended counceling, d. h., die Onlineberatung wird mit persönlichen Gesprächen in der Suchtberatungsstelle vor Ort und weiteren Onlinetools (wie z. B. Konsumtagebuch) kombiniert.

Gleichzeitig soll die Plattform bundesweit alle gemeinnützigen Suchtberatungsstellen in die Lage versetzen, datenschutzkonform, qualitätsgestützt und vernetzt mit den vorhandenen Klienten-Dokumentationssystemen Onlineberatung anbieten zu können. Gerade kleine Träger im ländlichen Raum waren bisher nicht in der Lage, eigene Onlineangebote zu entwickeln.

Mit der Inbetriebnahme der Plattform wäre dann ein großer Schritt in Richtung einer sozialraumorientierten digitalen Beratung getan. Gerade im ländlichen Raum kann dieses Onlineangebot die Möglichkeit bieten, wesentlich einfacher eine Suchtberatung zu erhalten. Weite Wege zur nächsten Beratungsstelle, fehlender ÖPNV und steigende Spritkosten sind dann keine Hürden mehr, die eine frühzeitige Beratung verhindern würden.

Digitalisierung = Organisations- & Personalentwicklung

Doch digitale Transformation bedeutet mehr als das Zur-Verfügung-Stellen von Plattformen. Digitalisierung gerade in kleinen sozialen, gemeinnützigen Organisationen geht einher mit einem kulturellen Wandel. Wo Ratsuchende mittels digitaler Angebote niedrigschwelliger als bisher erreicht werden sollen, sind besondere Herausforderungen für die Einrichtungen und die Mitarbeitenden der Suchthilfeträger zu bewältigen.

Kaum ein Träger der Suchthilfe hat in den letzten Jahren eine Digitalisierungsstrategie entwickelt. Themen wie Datenschutz und IT-Sicherheit sind in der Regel unbeliebt und die Möglichkeiten, die jeweils aktuelle technische Ausstattung (finanziell) zu gewährleisten, gering. Der digitale Wandel geht im besten Fall einher mit Organisationsentwicklungsprozessen und Personalentwicklung. Die Digitalisierung wesentlicher Prozesse in Organisationen bedeutet zunächst eine Veränderung bekannter Prozesse und Abläufe – das bedeutet sowohl Unsicherheiten bei Mitarbeitenden als auch ein Infragestellen der bisherigen Gewissheiten. Serverbasiertes Arbeiten, digitale Terminvereinbarung und digitale Klientendokumentation wurden in den letzten Jahren in vielen Eirichtungen eingeführt.

Während der coronabedingten Lockdowns mussten neue Regelungen zu Themen wie Homeoffice und der Abrechenbarkeit digitaler Leistungen getroffen werden. Gleichzeitig wurden, zum Teil sehr innovativ und trotzdem im Sinne der Klient:innen, bekannte Wege verlassen und neue Erfahrungen in der digitalen Kommunikation mit Ratsuchenden gemacht. Was in der Krise sehr kreativ (und manchmal noch provisorisch) entwickelt wurde, gilt es nun zu professionalisieren und weiterzuentwickeln. Führungskräfte stehen vor der Herausforderung, einen Changemanagement-Prozess zu gestalten, der die Organisationen und die Mitarbeitenden in die Lage versetzt, die Anforderungen der Digitalisierung und den damit einhergehenden kulturellen Wandel zu bewältigen.

Gleichzeitig ist es dringend notwendig, die Finanzierungsstruktur der digitalen Angebote abzusichern. Anders als in vielen anderen Arbeitsfeldern bedeutet die Digitalisierung in der Suchthilfe nicht, dass Fachkräfte eingespart werden können und die Leistungen dadurch preiswerter werden. Um mittels digitaler Angebote mehr Menschen möglichst früh und niedrigschwellig zu erreichen, wie es der originäre Auftrag der Suchtberatungsstellen ist, werden sowohl die finanzielle als auch die fachliche und politische Unterstützung der Kostenträger sowie der kommunalen Auftraggeber benötigt. Der in der Pandemie begonnene erfolgreiche Weg, Menschen digital zu erreichen, sollte auch nach der Krisensituation fortgesetzt werden. Damit würden die in der Suchthilfe altbekannten Prinzipien der Niedrigschwelligkeit bzw. der aufsuchenden Arbeit im digitalen Raum durch nutzerfreundliche digitale Angebote weiterentwickelt.

New Work in der Suchthilfe – Neue Methoden erfordern neue Kompetenzen und bieten neue Chancen

Der Wunsch nach direkter Arbeit mit Menschen ist in der Regel eine wesentliche Motivation, um in der Suchthilfe zu arbeiten. Digitale Kompetenzen waren bisher kein Bestandteil der Ausbildung von Fachkräften im Sozial- und Gesundheitswesen. Mit der Einführung von digitalen Tools werden von den Fachkräften in der Suchthilfe zusätzliche Qualifikationen gefordert, die bisher keine Rolle spielten. Der für einige Fachkräfte ungewohnte digitale Raum stellt bisher bekannte und eingeübte Methoden in Frage. Beratung im Chat und per Video erfordert andere Kommunikationsstrategien als die gewohnte (und erlernte) Gesprächsführung „in Präsenz“. Auch die Fähigkeit, digitale Anwendungen sicher zu bedienen, war bisher nicht grundlegender Bestandteil des Anforderungsprofils von Fachkräften in der Suchthilfe. Dieses methodische „Neuland“ muss erarbeitet werden. Dafür benötigen sowohl die Fachkräfte als auch die Träger qualitätsgesicherte Fortbildungsangebote. Führungskräfte stehen vor der Herausforderung, diesen grundlegenden kulturellen Wandel zu gestalten.

Die Hochschulen befinden sich aktuell in einem Prozess der Weiterentwicklung in diese Richtung. Erste Studiengänge im Themenfeld Digitalisierung sozialer Arbeit sind gestartet und beabsichtigen, dass die Vermittlung digitaler Kompetenzen als Grundlage in die Fachkräfteausbildung aufgenommen wird.

Der Fachkräftemangel führt schon jetzt dazu, dass ausgeschriebene Stellen in der Suchthilfe über längere Zeit nicht besetzt werden können. Während die erste Generation der Suchtberater:innen sich in den Ruhestand verbschiedet, kann die jetzt nachfolgende Generation der Fachkräfte sich ihren Arbeitsplatz danach auswählen, welcher Arbeitgeber die besten Rahmenbedingungen bietet. Hier stehen die Träger vor der Herausforderung, das Arbeitsfeld Suchthilfe so attraktiv wie möglich zu gestalten. Durch Online-Beratung könnte das Arbeitsfeld der Suchtberatung für Fachkräfte attraktiver gestaltet werden. Mobiles Arbeiten/Homeoffice und flexiblere Arbeitszeiten werden möglich – gute Angebote, um damit Fachkräfte zu gewinnen. Außerdem könnte das verstärkte Agieren mit digitalen Mitteln den Bereich der Suchthilfe zusätzlich für eine neue Gruppe an Fachkräften interessant machen.

Was nützt die Digitalisierung in der Suchthilfe den Ratsuchenden / Klient:innen?

Digitale Teilhabe heißt, dass jede Bürgerin/ jeder Bürger Zugang zu digitalen Entwicklungen hat, um an der Gesellschaft teilzunehmen. Suchtberatung als Bestandteil der kommunalen Daseinsvorsorge sollte diesen Auftrag annehmen und suchterkrankten Menschen einen digitalen Zugang zu Beratung schwellenarm und qualitätsgestützt zu bieten.

Die Attraktivität des Angebotes hängt auch davon ab, wie einfach der Zugang ist. Wenn das Ziel der ambulanten Suchthilfe heißt, Ratsuchende so früh wie möglich zu erreichen, sollten die Onlineangebote gesellschaftlich sehr breit und über entsprechende (Online-)Kanäle beworben werden. Gleichzeitig sollten die Onlineangebote attraktiv gestaltet und einfach zu bedienen sein.

Ausblick: Herausforderung und Chance

Digitalisierung in der Suchthilfe stellt ein großes Potenzial an Verbesserungsmöglichkeiten dar. Onlineangebote sollten dazu führen, dass Ratsuchende früher erreicht werden. Ideal ist die Verknüpfung von digitaler und regionaler Verfügbarkeit: Suchtberatung als Teil der Daseinsvorsorge muss wohnortnah und digital zugänglich sein. Onlineberatung könnte das Arbeitsfeld der Suchtberatung für Fachkräfte attraktiver machen und ein Vorteil bei der Gewinnung von Mitarbeitenden sein. Durch digitale Angebote werden keine Fachkräfte eingespart, sondern im besten Fall werden Menschen früher erreicht und es können größere gesundheitliche und soziale Schäden vermieden werden. Für eine erfolgreiche digitale Transformation benötigen die Träger der Suchthilfe fachliche, politische und finanzielle Unterstützung, um notwendige Organisationsentwicklungsprozesse zu implementieren.

Kontakt:

Andrea Hardeling
Geschäftsführerin
Brandenburgische Landesstelle für Suchtfragen e.V.
Behlertstr. 3A, Haus H1
14467 Potsdam
andrea.hardeling(at)blsev.de
www.blsev.de

Angaben zur Autorin:

Andrea Hardeling ist seit 2010 Geschäftsführerin der Brandenburgischen Landestelle für Suchtfragen e.V. Sie ist Diplom-Sozialarbeiterin mit Weiterbildungen in Systemischer Beratung, Sozialmanagement und Organisationsentwicklung.